Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
An Goethe.


Schon acht Tage bin ich in der lieblichsten Ge-
gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir
die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden,
deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. --
Wie läßt sich da auch schreiben! Die Allmacht Gottes
schaut mir zu jedem Fenster herein und neigt sich an-
muthig vor meinem begeisterten Blick.

Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell-
sehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh'
ich einen Wald, so wird mein Geist auch alle Hasen
und Hirsche gewahr, die drin herumspringen; und hör'
ich die Nachtigall, so weiß ich gleich was der kalte
Mond an ihr verschuldet hat.

Gestern Abend ging ich noch spät an den Rhein;
ich wagte mich auf einen schmalen Damm, der mitten
in den Fluß führt, an dessen Spitze von Wellen um-
braus'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini-
gen gewagten Sprüngen den aller vordersten, der grade
so viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu stehen.
Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen
über mir, sie drehten sich im Kreis, als wollten sie sich
aus der Luft herablassen; ich wehrte mich dagegen mit

An Goethe.


Schon acht Tage bin ich in der lieblichſten Ge-
gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir
die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden,
deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. —
Wie läßt ſich da auch ſchreiben! Die Allmacht Gottes
ſchaut mir zu jedem Fenſter herein und neigt ſich an-
muthig vor meinem begeiſterten Blick.

Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell-
ſehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh'
ich einen Wald, ſo wird mein Geiſt auch alle Haſen
und Hirſche gewahr, die drin herumſpringen; und hör'
ich die Nachtigall, ſo weiß ich gleich was der kalte
Mond an ihr verſchuldet hat.

Geſtern Abend ging ich noch ſpät an den Rhein;
ich wagte mich auf einen ſchmalen Damm, der mitten
in den Fluß führt, an deſſen Spitze von Wellen um-
brauſ'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini-
gen gewagten Sprüngen den aller vorderſten, der grade
ſo viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu ſtehen.
Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen
über mir, ſie drehten ſich im Kreis, als wollten ſie ſich
aus der Luft herablaſſen; ich wehrte mich dagegen mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0255" n="223"/>
        <div n="2">
          <opener>
            <salute>An Goethe.</salute><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Am 20. Mai.</hi> </dateline>
          </opener><lb/>
          <p>Schon acht Tage bin ich in der lieblich&#x017F;ten Ge-<lb/>
gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir<lb/>
die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden,<lb/>
deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. &#x2014;<lb/>
Wie läßt &#x017F;ich da auch &#x017F;chreiben! Die Allmacht Gottes<lb/>
&#x017F;chaut mir zu jedem Fen&#x017F;ter herein und neigt &#x017F;ich an-<lb/>
muthig vor meinem begei&#x017F;terten Blick.</p><lb/>
          <p>Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell-<lb/>
&#x017F;ehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh'<lb/>
ich einen Wald, &#x017F;o wird mein Gei&#x017F;t auch alle Ha&#x017F;en<lb/>
und Hir&#x017F;che gewahr, die drin herum&#x017F;pringen; und hör'<lb/>
ich die Nachtigall, &#x017F;o weiß ich gleich was der kalte<lb/>
Mond an ihr ver&#x017F;chuldet hat.</p><lb/>
          <p>Ge&#x017F;tern Abend ging ich noch &#x017F;pät an den Rhein;<lb/>
ich wagte mich auf einen &#x017F;chmalen Damm, der mitten<lb/>
in den Fluß führt, an de&#x017F;&#x017F;en Spitze von Wellen um-<lb/>
brau&#x017F;'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini-<lb/>
gen gewagten Sprüngen den aller vorder&#x017F;ten, der grade<lb/>
&#x017F;o viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu &#x017F;tehen.<lb/>
Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen<lb/>
über mir, &#x017F;ie drehten &#x017F;ich im Kreis, als wollten &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
aus der Luft herabla&#x017F;&#x017F;en; ich wehrte mich dagegen mit<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0255] An Goethe. Am 20. Mai. Schon acht Tage bin ich in der lieblichſten Ge- gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden, deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. — Wie läßt ſich da auch ſchreiben! Die Allmacht Gottes ſchaut mir zu jedem Fenſter herein und neigt ſich an- muthig vor meinem begeiſterten Blick. Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell- ſehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh' ich einen Wald, ſo wird mein Geiſt auch alle Haſen und Hirſche gewahr, die drin herumſpringen; und hör' ich die Nachtigall, ſo weiß ich gleich was der kalte Mond an ihr verſchuldet hat. Geſtern Abend ging ich noch ſpät an den Rhein; ich wagte mich auf einen ſchmalen Damm, der mitten in den Fluß führt, an deſſen Spitze von Wellen um- brauſ'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini- gen gewagten Sprüngen den aller vorderſten, der grade ſo viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu ſtehen. Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen über mir, ſie drehten ſich im Kreis, als wollten ſie ſich aus der Luft herablaſſen; ich wehrte mich dagegen mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/255
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/255>, abgerufen am 29.03.2024.