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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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ich mich deutlich aussprechen könnte, und auf andre
Weise wirst Du am wenigsten sie verstehen lernen. --
Verstehen, wie der Philister verstehet, der seinen Ver-
stand mit Consequenz anwendet und es so weit bringt,
daß man Talent nicht vom Genie unterscheidet. Ta-
lent überzeugt, aber Genie überzeugt nicht; dem,
dem es sich mittheilt, giebt es die Ahndung vom Un-
gemessenen, Unendlichen, während Talent eine genaue
Grenze absteckt und so, weil es begriffen ist, auch be-
hauptet wird.

Das Unendliche im Endlichen, das Genie in jeder
Kunst ist Musik. -- In sich selbst aber ist sie die Seele,
indem sie zärtlich rührt; indem sie aber sich dieser Rüh-
rung bemächtigt, da ist sie Geist, der seine eigne Seele
wärmt, nährt, trägt, wiedergebärt; und darum verneh-
men wir Musik, sonst würde das sinnliche Ohr sie nicht
hören, sondern nur der Geist; und so ist jede Kunst der
Leib der Musik, die die Seele jeder Kunst ist; und so
ist Musik auch die Seele der Liebe, die auch in ihrem
Wirken keine Rechenschaft giebt, denn sie ist das Be-
rühren des Göttlichen mit dem Menschlichen, und auf
jeden Fall ist das Göttliche die Leidenschaft die das
Menschliche verzehrt. Liebe spricht nichts für sich aus,
als daß sie in Harmonie versunken ist; Liebe ist flüssig,

ich mich deutlich ausſprechen könnte, und auf andre
Weiſe wirſt Du am wenigſten ſie verſtehen lernen. —
Verſtehen, wie der Philiſter verſtehet, der ſeinen Ver-
ſtand mit Conſequenz anwendet und es ſo weit bringt,
daß man Talent nicht vom Genie unterſcheidet. Ta-
lent überzeugt, aber Genie überzeugt nicht; dem,
dem es ſich mittheilt, giebt es die Ahndung vom Un-
gemeſſenen, Unendlichen, während Talent eine genaue
Grenze abſteckt und ſo, weil es begriffen iſt, auch be-
hauptet wird.

Das Unendliche im Endlichen, das Genie in jeder
Kunſt iſt Muſik. — In ſich ſelbſt aber iſt ſie die Seele,
indem ſie zärtlich rührt; indem ſie aber ſich dieſer Rüh-
rung bemächtigt, da iſt ſie Geiſt, der ſeine eigne Seele
wärmt, nährt, trägt, wiedergebärt; und darum verneh-
men wir Muſik, ſonſt würde das ſinnliche Ohr ſie nicht
hören, ſondern nur der Geiſt; und ſo iſt jede Kunſt der
Leib der Muſik, die die Seele jeder Kunſt iſt; und ſo
iſt Muſik auch die Seele der Liebe, die auch in ihrem
Wirken keine Rechenſchaft giebt, denn ſie iſt das Be-
rühren des Göttlichen mit dem Menſchlichen, und auf
jeden Fall iſt das Göttliche die Leidenſchaft die das
Menſchliche verzehrt. Liebe ſpricht nichts für ſich aus,
als daß ſie in Harmonie verſunken iſt; Liebe iſt flüſſig,

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[181/0213] ich mich deutlich ausſprechen könnte, und auf andre Weiſe wirſt Du am wenigſten ſie verſtehen lernen. — Verſtehen, wie der Philiſter verſtehet, der ſeinen Ver- ſtand mit Conſequenz anwendet und es ſo weit bringt, daß man Talent nicht vom Genie unterſcheidet. Ta- lent überzeugt, aber Genie überzeugt nicht; dem, dem es ſich mittheilt, giebt es die Ahndung vom Un- gemeſſenen, Unendlichen, während Talent eine genaue Grenze abſteckt und ſo, weil es begriffen iſt, auch be- hauptet wird. Das Unendliche im Endlichen, das Genie in jeder Kunſt iſt Muſik. — In ſich ſelbſt aber iſt ſie die Seele, indem ſie zärtlich rührt; indem ſie aber ſich dieſer Rüh- rung bemächtigt, da iſt ſie Geiſt, der ſeine eigne Seele wärmt, nährt, trägt, wiedergebärt; und darum verneh- men wir Muſik, ſonſt würde das ſinnliche Ohr ſie nicht hören, ſondern nur der Geiſt; und ſo iſt jede Kunſt der Leib der Muſik, die die Seele jeder Kunſt iſt; und ſo iſt Muſik auch die Seele der Liebe, die auch in ihrem Wirken keine Rechenſchaft giebt, denn ſie iſt das Be- rühren des Göttlichen mit dem Menſchlichen, und auf jeden Fall iſt das Göttliche die Leidenſchaft die das Menſchliche verzehrt. Liebe ſpricht nichts für ſich aus, als daß ſie in Harmonie verſunken iſt; Liebe iſt flüſſig,

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/213>, abgerufen am 19.04.2024.