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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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sie verfliegt in ihrem eignen Element; Harmonie ist ihr
Element.


Lieber Goethe, halte meine wunderlichen Gedanken
dem wunderlichen Platz zu gut, wo ich mich befinde;
ich bin in der Karmeliterkirche, in einem verborgnen
Winkel hinter einem großen Pfeiler; da geh ich alle
Tage her in der Mittagstunde, da scheint die Herbst-
sonne durch's Kirchenfenster und malt den Schatten der
Weinblätter hier auf die Erde und an die weiße Wand,
da seh ich wie der Wind die bewegt und wie eins nach
dem andern abfällt; hier ist tiefe Einsamkeit, und die
Menschen, die ich hier zur ungewöhnlichen Stunde treffe,
die sind gewiß da um an ihre Todten zu denken, die
hier begraben sein mögen. Hier am Eingang ist die
Gruft wo Vater und Mutter begraben liegen und sie-
ben Geschwister; da steht ein Sarg über dem andern.
Ich weiß nicht was mich in diese große düstre Kirche
lockt; für die Todten beten? -- soll ich sagen: "Lieber
Gott im Himmel, heb' doch diese Verstorbenen zu Dir
in den Himmel?" -- Die Liebe ist ein flüssig Element, sie
löst Seele und Geist in sich auf, und das ist Selig-

ſie verfliegt in ihrem eignen Element; Harmonie iſt ihr
Element.


Lieber Goethe, halte meine wunderlichen Gedanken
dem wunderlichen Platz zu gut, wo ich mich befinde;
ich bin in der Karmeliterkirche, in einem verborgnen
Winkel hinter einem großen Pfeiler; da geh ich alle
Tage her in der Mittagſtunde, da ſcheint die Herbſt-
ſonne durch's Kirchenfenſter und malt den Schatten der
Weinblätter hier auf die Erde und an die weiße Wand,
da ſeh ich wie der Wind die bewegt und wie eins nach
dem andern abfällt; hier iſt tiefe Einſamkeit, und die
Menſchen, die ich hier zur ungewöhnlichen Stunde treffe,
die ſind gewiß da um an ihre Todten zu denken, die
hier begraben ſein mögen. Hier am Eingang iſt die
Gruft wo Vater und Mutter begraben liegen und ſie-
ben Geſchwiſter; da ſteht ein Sarg über dem andern.
Ich weiß nicht was mich in dieſe große düſtre Kirche
lockt; für die Todten beten? — ſoll ich ſagen: „Lieber
Gott im Himmel, heb' doch dieſe Verſtorbenen zu Dir
in den Himmel?“ — Die Liebe iſt ein flüſſig Element, ſie
löſt Seele und Geiſt in ſich auf, und das iſt Selig-

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[182/0214] ſie verfliegt in ihrem eignen Element; Harmonie iſt ihr Element. Am 17. November. Lieber Goethe, halte meine wunderlichen Gedanken dem wunderlichen Platz zu gut, wo ich mich befinde; ich bin in der Karmeliterkirche, in einem verborgnen Winkel hinter einem großen Pfeiler; da geh ich alle Tage her in der Mittagſtunde, da ſcheint die Herbſt- ſonne durch's Kirchenfenſter und malt den Schatten der Weinblätter hier auf die Erde und an die weiße Wand, da ſeh ich wie der Wind die bewegt und wie eins nach dem andern abfällt; hier iſt tiefe Einſamkeit, und die Menſchen, die ich hier zur ungewöhnlichen Stunde treffe, die ſind gewiß da um an ihre Todten zu denken, die hier begraben ſein mögen. Hier am Eingang iſt die Gruft wo Vater und Mutter begraben liegen und ſie- ben Geſchwiſter; da ſteht ein Sarg über dem andern. Ich weiß nicht was mich in dieſe große düſtre Kirche lockt; für die Todten beten? — ſoll ich ſagen: „Lieber Gott im Himmel, heb' doch dieſe Verſtorbenen zu Dir in den Himmel?“ — Die Liebe iſt ein flüſſig Element, ſie löſt Seele und Geiſt in ſich auf, und das iſt Selig-

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/214>, abgerufen am 29.03.2024.