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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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berge auch die Grenze der Audienz Gottes wär', so fällt
das weltliche Leben ein, Schelmenliedchen bemächtigen
sich der Kehlen, und ein heiteres Allegro der Ausgelas-
senheit verdrängt den Bußgesang, alle Unarten gehen
los, die Knaben balgen sich, und lassen ihre Drachen
am Ufer im Mondschein fliegen, die Mädchen spannen
ihre Leinwand aus, die auf der Bleiche liegt, und die
Bursche bombardieren sie mit wilden Castanien; da jagt
der Stadthirt die Kuhheerde durch's Getümmel, den
Ochs voran, damit er sich Platz mache; die hübschen
Wirthstöchter stehen unter den Weinlauben vor der
Thür und klappen mit dem Deckel der Weinkanne, da
sprechen die Chorherren ein, und halten Gericht über
Jahrgänge und Weinlagen, der Herr Frühmessner sagte
nach gehaltner Procession zum Herrn Kaplan: Nun
haben wir's unserm Herrgott vorgetragen, was unserm
Wein Noth thut: noch acht Tage trocken Wetter, dann
Morgens früh Regen und Mittags tüchtigen Sonnen-
schein, und das so fort Juli und August! wenn's dann
kein gutes Weinjahr giebt, so ist's nicht unsre Schuld.

Gestern wanderte ich, der Prozession vorüber, hin-
auf nach dem Kloster, wo sie herkam. Oft hatte ich im
Aufsteigen halt gemacht, um den verhallenden Gesang
noch zu hören. Da oben auf der Höhe war große Ein-

berge auch die Grenze der Audienz Gottes wär', ſo fällt
das weltliche Leben ein, Schelmenliedchen bemächtigen
ſich der Kehlen, und ein heiteres Allegro der Ausgelaſ-
ſenheit verdrängt den Bußgeſang, alle Unarten gehen
los, die Knaben balgen ſich, und laſſen ihre Drachen
am Ufer im Mondſchein fliegen, die Mädchen ſpannen
ihre Leinwand aus, die auf der Bleiche liegt, und die
Burſche bombardieren ſie mit wilden Caſtanien; da jagt
der Stadthirt die Kuhheerde durch's Getümmel, den
Ochs voran, damit er ſich Platz mache; die hübſchen
Wirthstöchter ſtehen unter den Weinlauben vor der
Thür und klappen mit dem Deckel der Weinkanne, da
ſprechen die Chorherren ein, und halten Gericht über
Jahrgänge und Weinlagen, der Herr Frühmeſſner ſagte
nach gehaltner Proceſſion zum Herrn Kaplan: Nun
haben wir's unſerm Herrgott vorgetragen, was unſerm
Wein Noth thut: noch acht Tage trocken Wetter, dann
Morgens früh Regen und Mittags tüchtigen Sonnen-
ſchein, und das ſo fort Juli und Auguſt! wenn's dann
kein gutes Weinjahr giebt, ſo iſt's nicht unſre Schuld.

Geſtern wanderte ich, der Prozeſſion vorüber, hin-
auf nach dem Kloſter, wo ſie herkam. Oft hatte ich im
Aufſteigen halt gemacht, um den verhallenden Geſang
noch zu hören. Da oben auf der Höhe war große Ein-

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[232/0264] berge auch die Grenze der Audienz Gottes wär', ſo fällt das weltliche Leben ein, Schelmenliedchen bemächtigen ſich der Kehlen, und ein heiteres Allegro der Ausgelaſ- ſenheit verdrängt den Bußgeſang, alle Unarten gehen los, die Knaben balgen ſich, und laſſen ihre Drachen am Ufer im Mondſchein fliegen, die Mädchen ſpannen ihre Leinwand aus, die auf der Bleiche liegt, und die Burſche bombardieren ſie mit wilden Caſtanien; da jagt der Stadthirt die Kuhheerde durch's Getümmel, den Ochs voran, damit er ſich Platz mache; die hübſchen Wirthstöchter ſtehen unter den Weinlauben vor der Thür und klappen mit dem Deckel der Weinkanne, da ſprechen die Chorherren ein, und halten Gericht über Jahrgänge und Weinlagen, der Herr Frühmeſſner ſagte nach gehaltner Proceſſion zum Herrn Kaplan: Nun haben wir's unſerm Herrgott vorgetragen, was unſerm Wein Noth thut: noch acht Tage trocken Wetter, dann Morgens früh Regen und Mittags tüchtigen Sonnen- ſchein, und das ſo fort Juli und Auguſt! wenn's dann kein gutes Weinjahr giebt, ſo iſt's nicht unſre Schuld. Geſtern wanderte ich, der Prozeſſion vorüber, hin- auf nach dem Kloſter, wo ſie herkam. Oft hatte ich im Aufſteigen halt gemacht, um den verhallenden Geſang noch zu hören. Da oben auf der Höhe war große Ein-

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/264>, abgerufen am 19.04.2024.