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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

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Der Freund weiß daß die Sehnsucht nicht ist, wie
der Mensch sich von ihr denkt, wie von dem Brausen
des Windes, und von beiden falsch; nämlich, daß
beide so sind, und auch wohl wieder vergehen; und
die Frage: Warum und woher und wohin, ist ihnen
bei der Sehnsucht wie bei dem Wind. Aber: Wie
hoch herab senken sich wohl diese Kräfte, die das junge
Gras aus dem Boden hervorlocken? -- und wie hoch
hinauf steigen wohl diese Düfte, die sich den Blumen
entschwingen? -- ist da eine Leiter angelegt? -- oder
steigen alle Gewalten der Natur aus dem Schooß der
Gottheit herab, und ihre einfachsten Erzeugnisse wie-
der zu ihrem Erzeuger hinauf? -- ja gewiß! -- al-
les was aus göttlichem Segen entspringt kehrt zu
ihm hinauf! und die Sehnsucht nach Ihm, der erst
niedersank wie Thau auf den durstigen Boden des
menschlichen Geistes, der hier in seine herrlichste Blüthe
sich entfaltete, der aufstieg im Duft seiner eigenen
Verklärung; sollte diese Sehnsucht nicht auch him-
melan steigen? -- sollte sie den Weg zu ihm hinauf
nicht finden? --

Tagebuch. 11

Der Freund weiß daß die Sehnſucht nicht iſt, wie
der Menſch ſich von ihr denkt, wie von dem Brauſen
des Windes, und von beiden falſch; nämlich, daß
beide ſo ſind, und auch wohl wieder vergehen; und
die Frage: Warum und woher und wohin, iſt ihnen
bei der Sehnſucht wie bei dem Wind. Aber: Wie
hoch herab ſenken ſich wohl dieſe Kräfte, die das junge
Gras aus dem Boden hervorlocken? — und wie hoch
hinauf ſteigen wohl dieſe Düfte, die ſich den Blumen
entſchwingen? — iſt da eine Leiter angelegt? — oder
ſteigen alle Gewalten der Natur aus dem Schooß der
Gottheit herab, und ihre einfachſten Erzeugniſſe wie-
der zu ihrem Erzeuger hinauf? — ja gewiß! — al-
les was aus göttlichem Segen entſpringt kehrt zu
ihm hinauf! und die Sehnſucht nach Ihm, der erſt
niederſank wie Thau auf den durſtigen Boden des
menſchlichen Geiſtes, der hier in ſeine herrlichſte Blüthe
ſich entfaltete, der aufſtieg im Duft ſeiner eigenen
Verklärung; ſollte dieſe Sehnſucht nicht auch him-
melan ſteigen? — ſollte ſie den Weg zu ihm hinauf
nicht finden? —

Tagebuch. 11
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[241/0251] Der Freund weiß daß die Sehnſucht nicht iſt, wie der Menſch ſich von ihr denkt, wie von dem Brauſen des Windes, und von beiden falſch; nämlich, daß beide ſo ſind, und auch wohl wieder vergehen; und die Frage: Warum und woher und wohin, iſt ihnen bei der Sehnſucht wie bei dem Wind. Aber: Wie hoch herab ſenken ſich wohl dieſe Kräfte, die das junge Gras aus dem Boden hervorlocken? — und wie hoch hinauf ſteigen wohl dieſe Düfte, die ſich den Blumen entſchwingen? — iſt da eine Leiter angelegt? — oder ſteigen alle Gewalten der Natur aus dem Schooß der Gottheit herab, und ihre einfachſten Erzeugniſſe wie- der zu ihrem Erzeuger hinauf? — ja gewiß! — al- les was aus göttlichem Segen entſpringt kehrt zu ihm hinauf! und die Sehnſucht nach Ihm, der erſt niederſank wie Thau auf den durſtigen Boden des menſchlichen Geiſtes, der hier in ſeine herrlichſte Blüthe ſich entfaltete, der aufſtieg im Duft ſeiner eigenen Verklärung; ſollte dieſe Sehnſucht nicht auch him- melan ſteigen? — ſollte ſie den Weg zu ihm hinauf nicht finden? — Tagebuch. 11

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Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/251>, abgerufen am 25.04.2024.