Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Die gesellschaftlichen Verhältnisse des Gaunerthums bieten
daher keinen besondern ethnographischen Stoff dar. Das Gauner-
leben bewegt sich nur im tiefsten sittlichen Elend des niedrigsten
Volkslebens, aus dessen Sphäre es mit seiner Kunst in alle obern
Schichten zu dringen versucht; und hat nur das Eigenthümliche,
daß es in diesem sittlichen Elend seine Vereinigung sucht. Bei
der Flut und Ebbe des zu- und abziehenden Gesindels lagert sich
der Schlamm der verworfensten Entsittlichung in den Wohnungen
und in den Gaunerherbergen (Chessen-Spiesen oder Kochemer-
Pennen) ab. Das unstete Leben und Umherschweifen des Gau-
ners gibt ihm volle Freiheit, seiner ungeheuer wuchernden Sinn-
lichkeit im weitesten Begriffe ungebändigt nachzugehen und somit
die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche
Controle zu eludiren. Selbst der an die furchtbarsten Erscheinun-
gen des sittlichen Elends täglich gewohnte Polizeimann schreckt
zurück, wenn er die Höhlen des Lasters betritt, in denen die
Weihe und der Stempel des Elends ertheilt und hingenommen
wird. Aber doch bringt der Gauner Behagen mit in diesen furcht-
baren Aufenthalt, wenn er tief in der Nacht von seinen Aus-
flügen zurückkehrt; ihn erwartet der behagliche Versteck unter
seinesgleichen und die Wollust auf der, wenn auch mit Unge-
ziefer übersäeten Streu; und alles Ekle schüttelt er von sich wie
das Ungeziefer, wenn er den Fuß von dannen hebt, um weiter
zu schweifen, sein Glück zu versuchen, zu prassen und wieder in
andern Höhlen bei seinesgleichen auszuruhen.

Die Genußsucht und Sinnlichkeit des Gauners sowie
seine Verschwendung grenzt an Raserei. Mancher Gauner hat
zu verschiedenen malen schon ein bedeutendes Vermögen erworben
gehabt, von dessen Renten er ein bequemes ruhiges Leben hätte
führen können. Aber in kurzer Zeit wird der Reichthum ver-
praßt. Der Gauner begreift sein Spiel und dessen Gefahr und
Ausgang, und darum klammert er sich mit krankhafter Lust an
das Leben an, das ihn hin- und herwirft und ihm eine amphi-
bische Natur verleiht, sodaß es nur ihm allein möglich wird, im
höchsten Genuß und im höchsten Elend zu leben. Der Zweck der

Die geſellſchaftlichen Verhältniſſe des Gaunerthums bieten
daher keinen beſondern ethnographiſchen Stoff dar. Das Gauner-
leben bewegt ſich nur im tiefſten ſittlichen Elend des niedrigſten
Volkslebens, aus deſſen Sphäre es mit ſeiner Kunſt in alle obern
Schichten zu dringen verſucht; und hat nur das Eigenthümliche,
daß es in dieſem ſittlichen Elend ſeine Vereinigung ſucht. Bei
der Flut und Ebbe des zu- und abziehenden Geſindels lagert ſich
der Schlamm der verworfenſten Entſittlichung in den Wohnungen
und in den Gaunerherbergen (Cheſſen-Spieſen oder Kochemer-
Pennen) ab. Das unſtete Leben und Umherſchweifen des Gau-
ners gibt ihm volle Freiheit, ſeiner ungeheuer wuchernden Sinn-
lichkeit im weiteſten Begriffe ungebändigt nachzugehen und ſomit
die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche
Controle zu eludiren. Selbſt der an die furchtbarſten Erſcheinun-
gen des ſittlichen Elends täglich gewohnte Polizeimann ſchreckt
zurück, wenn er die Höhlen des Laſters betritt, in denen die
Weihe und der Stempel des Elends ertheilt und hingenommen
wird. Aber doch bringt der Gauner Behagen mit in dieſen furcht-
baren Aufenthalt, wenn er tief in der Nacht von ſeinen Aus-
flügen zurückkehrt; ihn erwartet der behagliche Verſteck unter
ſeinesgleichen und die Wolluſt auf der, wenn auch mit Unge-
ziefer überſäeten Streu; und alles Ekle ſchüttelt er von ſich wie
das Ungeziefer, wenn er den Fuß von dannen hebt, um weiter
zu ſchweifen, ſein Glück zu verſuchen, zu praſſen und wieder in
andern Höhlen bei ſeinesgleichen auszuruhen.

Die Genußſucht und Sinnlichkeit des Gauners ſowie
ſeine Verſchwendung grenzt an Raſerei. Mancher Gauner hat
zu verſchiedenen malen ſchon ein bedeutendes Vermögen erworben
gehabt, von deſſen Renten er ein bequemes ruhiges Leben hätte
führen können. Aber in kurzer Zeit wird der Reichthum ver-
praßt. Der Gauner begreift ſein Spiel und deſſen Gefahr und
Ausgang, und darum klammert er ſich mit krankhafter Luſt an
das Leben an, das ihn hin- und herwirft und ihm eine amphi-
biſche Natur verleiht, ſodaß es nur ihm allein möglich wird, im
höchſten Genuß und im höchſten Elend zu leben. Der Zweck der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0020" n="8"/>
            <p>Die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Verhältni&#x017F;&#x017F;e des Gaunerthums bieten<lb/>
daher keinen be&#x017F;ondern ethnographi&#x017F;chen Stoff dar. Das Gauner-<lb/>
leben bewegt &#x017F;ich nur im tief&#x017F;ten &#x017F;ittlichen Elend des niedrig&#x017F;ten<lb/>
Volkslebens, aus de&#x017F;&#x017F;en Sphäre es mit &#x017F;einer Kun&#x017F;t in alle obern<lb/>
Schichten zu dringen ver&#x017F;ucht; und hat nur das Eigenthümliche,<lb/>
daß es in die&#x017F;em &#x017F;ittlichen Elend &#x017F;eine <hi rendition="#g">Vereinigung</hi> &#x017F;ucht. Bei<lb/>
der Flut und Ebbe des zu- und abziehenden Ge&#x017F;indels lagert &#x017F;ich<lb/>
der Schlamm der verworfen&#x017F;ten Ent&#x017F;ittlichung in den Wohnungen<lb/>
und in den Gaunerherbergen (Che&#x017F;&#x017F;en-Spie&#x017F;en oder Kochemer-<lb/>
Pennen) ab. Das un&#x017F;tete Leben und Umher&#x017F;chweifen des Gau-<lb/>
ners gibt ihm volle Freiheit, &#x017F;einer ungeheuer wuchernden Sinn-<lb/>
lichkeit im weite&#x017F;ten Begriffe ungebändigt nachzugehen und &#x017F;omit<lb/>
die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche<lb/>
Controle zu eludiren. Selb&#x017F;t der an die furchtbar&#x017F;ten Er&#x017F;cheinun-<lb/>
gen des &#x017F;ittlichen Elends täglich gewohnte Polizeimann &#x017F;chreckt<lb/>
zurück, wenn er die Höhlen des La&#x017F;ters betritt, in denen die<lb/>
Weihe und der Stempel des Elends ertheilt und hingenommen<lb/>
wird. Aber doch bringt der Gauner Behagen mit in die&#x017F;en furcht-<lb/>
baren Aufenthalt, wenn er tief in der Nacht von &#x017F;einen Aus-<lb/>
flügen zurückkehrt; ihn erwartet der behagliche Ver&#x017F;teck unter<lb/>
&#x017F;einesgleichen und die Wollu&#x017F;t auf der, wenn auch mit Unge-<lb/>
ziefer über&#x017F;äeten Streu; und alles Ekle &#x017F;chüttelt er von &#x017F;ich wie<lb/>
das Ungeziefer, wenn er den Fuß von dannen hebt, um weiter<lb/>
zu &#x017F;chweifen, &#x017F;ein Glück zu ver&#x017F;uchen, zu pra&#x017F;&#x017F;en und wieder in<lb/>
andern Höhlen bei &#x017F;einesgleichen auszuruhen.</p><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#g">Genuß&#x017F;ucht</hi> und <hi rendition="#g">Sinnlichkeit</hi> des Gauners &#x017F;owie<lb/>
&#x017F;eine Ver&#x017F;chwendung grenzt an Ra&#x017F;erei. Mancher Gauner hat<lb/>
zu ver&#x017F;chiedenen malen &#x017F;chon ein bedeutendes Vermögen erworben<lb/>
gehabt, von de&#x017F;&#x017F;en Renten er ein bequemes ruhiges Leben hätte<lb/>
führen können. Aber in kurzer Zeit wird der Reichthum ver-<lb/>
praßt. Der Gauner begreift &#x017F;ein Spiel und de&#x017F;&#x017F;en Gefahr und<lb/>
Ausgang, und darum klammert er &#x017F;ich mit krankhafter Lu&#x017F;t an<lb/>
das Leben an, das ihn hin- und herwirft und ihm eine amphi-<lb/>
bi&#x017F;che Natur verleiht, &#x017F;odaß es nur <hi rendition="#g">ihm allein</hi> möglich wird, im<lb/>
höch&#x017F;ten <hi rendition="#g">Genuß</hi> und im höch&#x017F;ten <hi rendition="#g">Elend</hi> zu leben. Der Zweck der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0020] Die geſellſchaftlichen Verhältniſſe des Gaunerthums bieten daher keinen beſondern ethnographiſchen Stoff dar. Das Gauner- leben bewegt ſich nur im tiefſten ſittlichen Elend des niedrigſten Volkslebens, aus deſſen Sphäre es mit ſeiner Kunſt in alle obern Schichten zu dringen verſucht; und hat nur das Eigenthümliche, daß es in dieſem ſittlichen Elend ſeine Vereinigung ſucht. Bei der Flut und Ebbe des zu- und abziehenden Geſindels lagert ſich der Schlamm der verworfenſten Entſittlichung in den Wohnungen und in den Gaunerherbergen (Cheſſen-Spieſen oder Kochemer- Pennen) ab. Das unſtete Leben und Umherſchweifen des Gau- ners gibt ihm volle Freiheit, ſeiner ungeheuer wuchernden Sinn- lichkeit im weiteſten Begriffe ungebändigt nachzugehen und ſomit die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche Controle zu eludiren. Selbſt der an die furchtbarſten Erſcheinun- gen des ſittlichen Elends täglich gewohnte Polizeimann ſchreckt zurück, wenn er die Höhlen des Laſters betritt, in denen die Weihe und der Stempel des Elends ertheilt und hingenommen wird. Aber doch bringt der Gauner Behagen mit in dieſen furcht- baren Aufenthalt, wenn er tief in der Nacht von ſeinen Aus- flügen zurückkehrt; ihn erwartet der behagliche Verſteck unter ſeinesgleichen und die Wolluſt auf der, wenn auch mit Unge- ziefer überſäeten Streu; und alles Ekle ſchüttelt er von ſich wie das Ungeziefer, wenn er den Fuß von dannen hebt, um weiter zu ſchweifen, ſein Glück zu verſuchen, zu praſſen und wieder in andern Höhlen bei ſeinesgleichen auszuruhen. Die Genußſucht und Sinnlichkeit des Gauners ſowie ſeine Verſchwendung grenzt an Raſerei. Mancher Gauner hat zu verſchiedenen malen ſchon ein bedeutendes Vermögen erworben gehabt, von deſſen Renten er ein bequemes ruhiges Leben hätte führen können. Aber in kurzer Zeit wird der Reichthum ver- praßt. Der Gauner begreift ſein Spiel und deſſen Gefahr und Ausgang, und darum klammert er ſich mit krankhafter Luſt an das Leben an, das ihn hin- und herwirft und ihm eine amphi- biſche Natur verleiht, ſodaß es nur ihm allein möglich wird, im höchſten Genuß und im höchſten Elend zu leben. Der Zweck der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/20
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/20>, abgerufen am 29.03.2024.