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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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Ganzen auszugleichen. Zu dieser Ausgleichung des sittlichen Lebens
können die Stämme eines Volkes nicht gelangen, wenn sie nicht
auch das erste und lebendigste Mittel des Verkehrs, ihre Stam-
messprache, gegeneinander ausgleichen und sich zu einer allen
andern Stämmen verständlichen Sprache vereinigen, in welcher
das Mundartige jedes Stammes theilweise zurücktritt, zur soge-
nannten Schriftsprache, oder, wie die Grammatiker sagen, zur
Sprache der Bildung, welche die anerkannte Wahrheit der
Sprache und das Organ des ganzen concentrirten Volksgeistes ist.



Fünstes Kapitel.
E. Die Hegemonie der Mundarten.

Die Sprache der Bildung ist eine gewordene, nicht eine
natürliche Spracheinheit. Sie übt die Herrschaft über alle
Stämme, so jedoch, daß jeder Stamm mit voller Freiheit seine
besondere Mundart verlassen und der Sprache der Bildung sich
bedienen kann, ohne darum die Eigenthümlichkeit seiner Mundart
aufgeben zu müssen. Wie in der Geschichte jedes welthistorischen
Volkes, so hat sich auch im deutschen beständig ein Dialekt als
Führer der Sprache des Volkes geltend gemacht und wesentlich in
seinen Lautverhältnissen den Volksgeist repräsentirt. Bei den Grie-
chen sieht man den attischen, bei den Römern den urbanischen,
bei den Jtalienern den florentinischen, bei den Spaniern den ca-
stilischen Dialekt die Hegemonie in der Sprache erringen und
fortführen. Diese Hegemonie hatte stets ihre Zeit und ihren
Wechsel, weil sie bedingt war durch den höhern Grad der Bildung
und geistigen Gewalt des Stammes, dem der vortretende Dialekt
eigenthümlich war, und nicht ohne bedeutenden Einfluß auf diese
Hegemonie war ersichtlich die Bildung und Sprache der fürstlichen
Höfe, an denen der Fürst die Jntelligenz glücklich um sich zu ver-
sammeln und zu fördern wußte. So hat denn auch die Hegemo-
nie der Dialekte außer der Geschichte der innern Herausbildung

Ganzen auszugleichen. Zu dieſer Ausgleichung des ſittlichen Lebens
können die Stämme eines Volkes nicht gelangen, wenn ſie nicht
auch das erſte und lebendigſte Mittel des Verkehrs, ihre Stam-
mesſprache, gegeneinander ausgleichen und ſich zu einer allen
andern Stämmen verſtändlichen Sprache vereinigen, in welcher
das Mundartige jedes Stammes theilweiſe zurücktritt, zur ſoge-
nannten Schriftſprache, oder, wie die Grammatiker ſagen, zur
Sprache der Bildung, welche die anerkannte Wahrheit der
Sprache und das Organ des ganzen concentrirten Volksgeiſtes iſt.



Fünſtes Kapitel.
E. Die Hegemonie der Mundarten.

Die Sprache der Bildung iſt eine gewordene, nicht eine
natürliche Spracheinheit. Sie übt die Herrſchaft über alle
Stämme, ſo jedoch, daß jeder Stamm mit voller Freiheit ſeine
beſondere Mundart verlaſſen und der Sprache der Bildung ſich
bedienen kann, ohne darum die Eigenthümlichkeit ſeiner Mundart
aufgeben zu müſſen. Wie in der Geſchichte jedes welthiſtoriſchen
Volkes, ſo hat ſich auch im deutſchen beſtändig ein Dialekt als
Führer der Sprache des Volkes geltend gemacht und weſentlich in
ſeinen Lautverhältniſſen den Volksgeiſt repräſentirt. Bei den Grie-
chen ſieht man den attiſchen, bei den Römern den urbaniſchen,
bei den Jtalienern den florentiniſchen, bei den Spaniern den ca-
ſtiliſchen Dialekt die Hegemonie in der Sprache erringen und
fortführen. Dieſe Hegemonie hatte ſtets ihre Zeit und ihren
Wechſel, weil ſie bedingt war durch den höhern Grad der Bildung
und geiſtigen Gewalt des Stammes, dem der vortretende Dialekt
eigenthümlich war, und nicht ohne bedeutenden Einfluß auf dieſe
Hegemonie war erſichtlich die Bildung und Sprache der fürſtlichen
Höfe, an denen der Fürſt die Jntelligenz glücklich um ſich zu ver-
ſammeln und zu fördern wußte. So hat denn auch die Hegemo-
nie der Dialekte außer der Geſchichte der innern Herausbildung

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[9/0043] Ganzen auszugleichen. Zu dieſer Ausgleichung des ſittlichen Lebens können die Stämme eines Volkes nicht gelangen, wenn ſie nicht auch das erſte und lebendigſte Mittel des Verkehrs, ihre Stam- mesſprache, gegeneinander ausgleichen und ſich zu einer allen andern Stämmen verſtändlichen Sprache vereinigen, in welcher das Mundartige jedes Stammes theilweiſe zurücktritt, zur ſoge- nannten Schriftſprache, oder, wie die Grammatiker ſagen, zur Sprache der Bildung, welche die anerkannte Wahrheit der Sprache und das Organ des ganzen concentrirten Volksgeiſtes iſt. Fünſtes Kapitel. E. Die Hegemonie der Mundarten. Die Sprache der Bildung iſt eine gewordene, nicht eine natürliche Spracheinheit. Sie übt die Herrſchaft über alle Stämme, ſo jedoch, daß jeder Stamm mit voller Freiheit ſeine beſondere Mundart verlaſſen und der Sprache der Bildung ſich bedienen kann, ohne darum die Eigenthümlichkeit ſeiner Mundart aufgeben zu müſſen. Wie in der Geſchichte jedes welthiſtoriſchen Volkes, ſo hat ſich auch im deutſchen beſtändig ein Dialekt als Führer der Sprache des Volkes geltend gemacht und weſentlich in ſeinen Lautverhältniſſen den Volksgeiſt repräſentirt. Bei den Grie- chen ſieht man den attiſchen, bei den Römern den urbaniſchen, bei den Jtalienern den florentiniſchen, bei den Spaniern den ca- ſtiliſchen Dialekt die Hegemonie in der Sprache erringen und fortführen. Dieſe Hegemonie hatte ſtets ihre Zeit und ihren Wechſel, weil ſie bedingt war durch den höhern Grad der Bildung und geiſtigen Gewalt des Stammes, dem der vortretende Dialekt eigenthümlich war, und nicht ohne bedeutenden Einfluß auf dieſe Hegemonie war erſichtlich die Bildung und Sprache der fürſtlichen Höfe, an denen der Fürſt die Jntelligenz glücklich um ſich zu ver- ſammeln und zu fördern wußte. So hat denn auch die Hegemo- nie der Dialekte außer der Geſchichte der innern Herausbildung

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/43>, abgerufen am 29.03.2024.