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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837.

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Verhältnisse zu betrachten, wie sie sind, ohne erzwungene oft lächerliche Erklä-
rungen und Zurückweisungen auf Einzelheiten in der unorganischen Natur.

b. Des Le-
bens Anfang
im Indivi-
duum.

Mehr noch sieht man aber die Kenntniss des organischen Lebens als un-
vollständig an, weil man den Moment seines Anfanges in jedem einzelnen Orga-
nismus nicht genau nachzuweisen im Stande ist. Die Zeugung und Entwickelung
eines lebendigen Körpers fand man deshalb von je her besonders geheimnissvoll
und wunderbar. Sie ist es aber nicht mehr als irgend eine andere Lebenserschei-
nung, denn wir gewöhnen uns nur zu sehr an den Glauben, dass wir das voll-
kommen verstehen, was wir mit unsern Sinnen oft wahrnehmen, und nur was
nicht unmittelbar vor unsern Augen oder unter unsern Händen geschieht, glauben
wir, sey uns unverständlich. Auch wer sonst nur wenig auf die Pflanzenwelt
achtet, hat sich wohl nach der Lösung des Geheimnisses gesehnt, wie aus dem
Saamenkorne ein neuer Baum aufschiesst. Dass aber ein Baum jährlich Knospen
treibt und aus diesen Knospen Aeste hervorwachsen, regt selten die Wissbegierde
des Nicht-Naturforschers auf -- und doch ist der Unterschied fast nur der,
dass jene Entwickelung in der Erde von uns nicht geschen, diese über der Erde
vor unsern Augen vorgeht. -- Eben so findet man es nicht wunderbar, dass
jeder Mensch, den wir um uns erblicken, jedes Thier und jede Pflanze sich er-
nährt und wenigstens einige Zeit des Lebens hindurch wächst. Die Ernährung
ist aber nichts als eine stete Umbildung. Der Mensch von heute ist schon nicht
ganz mehr der Mensch von gestern. Das Wachsthum ist Ernährung mit Bildung
neuer Körpermasse -- in der That eine fortgesetzte Zeugung, und die Zeugung
ist nichts als der Anfang eines individuellen Wachsthums. -- Das Wachsthum
finden wir nun ganz begreiflich, aber eben der Anfang ist es, den wir gern er-
kennen möchten. Vor allen Dingen suchen wir einen recht bestimmten Anfang,
eine scharfe Grenze zwischen Seyn und Nichtseyn. Ist aber in der Natur wirk-
lich ein solcher absoluter Anfang irgendwo bemerklich? Ist sie nicht ewige Ver-
änderung, und liegt es nicht vielleicht blos in der geistigen Anlage des Menschen,
dass er einen absoluten Anfang sucht?

c. Ob es im
Moment der
Befruchtung
neu beginnt?

Man hat in der That Scharfsinn und Phantasie bis zum Uebermaass ange-
strengt, um diesen Moment aufzuspüren. Vor allen Dingen schien es am glaub-
lichsten, dass im Augenblicke der Befruchtung das neue Wesen wie durch einen
electrischen Schlag, oder durch Vereinigung zweier heterogener Stoffe, wie ein
chemischer Niederschlag oder durch irgend ein magisches Kunststück entstehen
müsse. Allein wie scharf man auch die Microscope wählte, wie sehr man auch
das Auge anstrengte, man sah gleich nach der Befruchtung nichts, was man nicht
vorher gesehen hatte. Erst einige Zeit später war das neue Pflänzchen oder das

Verhältnisse zu betrachten, wie sie sind, ohne erzwungene oft lächerliche Erklä-
rungen und Zurückweisungen auf Einzelheiten in der unorganischen Natur.

b. Des Le-
bens Anfang
im Indivi-
duum.

Mehr noch sieht man aber die Kenntniſs des organischen Lebens als un-
vollständig an, weil man den Moment seines Anfanges in jedem einzelnen Orga-
nismus nicht genau nachzuweisen im Stande ist. Die Zeugung und Entwickelung
eines lebendigen Körpers fand man deshalb von je her besonders geheimniſsvoll
und wunderbar. Sie ist es aber nicht mehr als irgend eine andere Lebenserschei-
nung, denn wir gewöhnen uns nur zu sehr an den Glauben, daſs wir das voll-
kommen verstehen, was wir mit unsern Sinnen oft wahrnehmen, und nur was
nicht unmittelbar vor unsern Augen oder unter unsern Händen geschieht, glauben
wir, sey uns unverständlich. Auch wer sonst nur wenig auf die Pflanzenwelt
achtet, hat sich wohl nach der Lösung des Geheimnisses gesehnt, wie aus dem
Saamenkorne ein neuer Baum aufschieſst. Daſs aber ein Baum jährlich Knospen
treibt und aus diesen Knospen Aeste hervorwachsen, regt selten die Wiſsbegierde
des Nicht-Naturforschers auf — und doch ist der Unterschied fast nur der,
daſs jene Entwickelung in der Erde von uns nicht geschen, diese über der Erde
vor unsern Augen vorgeht. — Eben so findet man es nicht wunderbar, daſs
jeder Mensch, den wir um uns erblicken, jedes Thier und jede Pflanze sich er-
nährt und wenigstens einige Zeit des Lebens hindurch wächst. Die Ernährung
ist aber nichts als eine stete Umbildung. Der Mensch von heute ist schon nicht
ganz mehr der Mensch von gestern. Das Wachsthum ist Ernährung mit Bildung
neuer Körpermasse — in der That eine fortgesetzte Zeugung, und die Zeugung
ist nichts als der Anfang eines individuellen Wachsthums. — Das Wachsthum
finden wir nun ganz begreiflich, aber eben der Anfang ist es, den wir gern er-
kennen möchten. Vor allen Dingen suchen wir einen recht bestimmten Anfang,
eine scharfe Grenze zwischen Seyn und Nichtseyn. Ist aber in der Natur wirk-
lich ein solcher absoluter Anfang irgendwo bemerklich? Ist sie nicht ewige Ver-
änderung, und liegt es nicht vielleicht blos in der geistigen Anlage des Menschen,
daſs er einen absoluten Anfang sucht?

c. Ob es im
Moment der
Befruchtung
neu beginnt?

Man hat in der That Scharfsinn und Phantasie bis zum Uebermaaſs ange-
strengt, um diesen Moment aufzuspüren. Vor allen Dingen schien es am glaub-
lichsten, daſs im Augenblicke der Befruchtung das neue Wesen wie durch einen
electrischen Schlag, oder durch Vereinigung zweier heterogener Stoffe, wie ein
chemischer Niederschlag oder durch irgend ein magisches Kunststück entstehen
müsse. Allein wie scharf man auch die Microscope wählte, wie sehr man auch
das Auge anstrengte, man sah gleich nach der Befruchtung nichts, was man nicht
vorher gesehen hatte. Erst einige Zeit später war das neue Pflänzchen oder das

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[4/0014] Verhältnisse zu betrachten, wie sie sind, ohne erzwungene oft lächerliche Erklä- rungen und Zurückweisungen auf Einzelheiten in der unorganischen Natur. Mehr noch sieht man aber die Kenntniſs des organischen Lebens als un- vollständig an, weil man den Moment seines Anfanges in jedem einzelnen Orga- nismus nicht genau nachzuweisen im Stande ist. Die Zeugung und Entwickelung eines lebendigen Körpers fand man deshalb von je her besonders geheimniſsvoll und wunderbar. Sie ist es aber nicht mehr als irgend eine andere Lebenserschei- nung, denn wir gewöhnen uns nur zu sehr an den Glauben, daſs wir das voll- kommen verstehen, was wir mit unsern Sinnen oft wahrnehmen, und nur was nicht unmittelbar vor unsern Augen oder unter unsern Händen geschieht, glauben wir, sey uns unverständlich. Auch wer sonst nur wenig auf die Pflanzenwelt achtet, hat sich wohl nach der Lösung des Geheimnisses gesehnt, wie aus dem Saamenkorne ein neuer Baum aufschieſst. Daſs aber ein Baum jährlich Knospen treibt und aus diesen Knospen Aeste hervorwachsen, regt selten die Wiſsbegierde des Nicht-Naturforschers auf — und doch ist der Unterschied fast nur der, daſs jene Entwickelung in der Erde von uns nicht geschen, diese über der Erde vor unsern Augen vorgeht. — Eben so findet man es nicht wunderbar, daſs jeder Mensch, den wir um uns erblicken, jedes Thier und jede Pflanze sich er- nährt und wenigstens einige Zeit des Lebens hindurch wächst. Die Ernährung ist aber nichts als eine stete Umbildung. Der Mensch von heute ist schon nicht ganz mehr der Mensch von gestern. Das Wachsthum ist Ernährung mit Bildung neuer Körpermasse — in der That eine fortgesetzte Zeugung, und die Zeugung ist nichts als der Anfang eines individuellen Wachsthums. — Das Wachsthum finden wir nun ganz begreiflich, aber eben der Anfang ist es, den wir gern er- kennen möchten. Vor allen Dingen suchen wir einen recht bestimmten Anfang, eine scharfe Grenze zwischen Seyn und Nichtseyn. Ist aber in der Natur wirk- lich ein solcher absoluter Anfang irgendwo bemerklich? Ist sie nicht ewige Ver- änderung, und liegt es nicht vielleicht blos in der geistigen Anlage des Menschen, daſs er einen absoluten Anfang sucht? Man hat in der That Scharfsinn und Phantasie bis zum Uebermaaſs ange- strengt, um diesen Moment aufzuspüren. Vor allen Dingen schien es am glaub- lichsten, daſs im Augenblicke der Befruchtung das neue Wesen wie durch einen electrischen Schlag, oder durch Vereinigung zweier heterogener Stoffe, wie ein chemischer Niederschlag oder durch irgend ein magisches Kunststück entstehen müsse. Allein wie scharf man auch die Microscope wählte, wie sehr man auch das Auge anstrengte, man sah gleich nach der Befruchtung nichts, was man nicht vorher gesehen hatte. Erst einige Zeit später war das neue Pflänzchen oder das

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1837/14>, abgerufen am 23.04.2024.