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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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ERSTES KAPITEL
1.

Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter
dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu
jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und
verspürt, so muss man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter.
In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen
geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen
Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wild-
heit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entschei-
dungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im
Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand
das "Heilige römische Reich deutscher Nation". Unter
Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum dass
es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in
denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den
verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine
phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung
des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.

Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters
leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften
mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien,
ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch,
sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert
und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren,
so verlieh ihnen diese Weihe doch die "Kulturmission",
Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums
zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von
Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die
buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute

ERSTES KAPITEL
1.

Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter
dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu
jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und
verspürt, so muss man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter.
In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen
geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen
Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wild-
heit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entschei-
dungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im
Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand
das „Heilige römische Reich deutscher Nation“. Unter
Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum dass
es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in
denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den
verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine
phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung
des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.

Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters
leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften
mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien,
ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch,
sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert
und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren,
so verlieh ihnen diese Weihe doch die „Kulturmission“,
Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums
zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von
Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die
buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute

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[14/0022] ERSTES KAPITEL 1. Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muss man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter. In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wild- heit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entschei- dungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand das „Heilige römische Reich deutscher Nation“. Unter Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum dass es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII. Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien, ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch, sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren, so verlieh ihnen diese Weihe doch die „Kulturmission“, Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/22>, abgerufen am 20.04.2024.