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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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EINLEITUNG
1.

Jemand hat die Deutschen das protestierende Volk ge-
nannt, ohne dass doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten;
und obwohl Dostojewsky ein Russe war, glaubte er keines-
wegs an eine mystische deutsche Sendung, die sich irgendwann
im Laufe der Jahrhunderte einmal offenbaren werde. Ein anderer
aber, der sich sein Leben lang bemüht hatte, den Deutschen
Tiefe, Tragik und Sinn zu substituieren, Friedrich Nietzsche,
verlor zuletzt die Geduld und rief (in "Ecce homo") aus:
"Alle grossen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben
sie auf dem Gewissen"! Und er versuchte nachzuweisen,
wie die Deutschen an allen entscheidenden Wendepunkten
der europäischen Geschichte aus Feigheit vor der Realität,
aus einer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit,
aus "Idealismus" Europa um die Ernte und den Sinn ge-
bracht hätten.

Sie protestierten, sie erfanden jene "sittliche Weltord-
nung", von der sie behaupten, dass sie von ihnen bewahrt
und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auser-
wählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, wes-
halb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren
Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus,
vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose
die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre
Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und
Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern,
denen sie sich überlegen fühlten. Sie fanden nie die freund-
liche, höfliche Einstellung zu den Dingen, sie identifizierten
sich nicht mit den eignen Gedanken. Jedes Rütteln an ihrer

EINLEITUNG
1.

Jemand hat die Deutschen das protestierende Volk ge-
nannt, ohne dass doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten;
und obwohl Dostojewsky ein Russe war, glaubte er keines-
wegs an eine mystische deutsche Sendung, die sich irgendwann
im Laufe der Jahrhunderte einmal offenbaren werde. Ein anderer
aber, der sich sein Leben lang bemüht hatte, den Deutschen
Tiefe, Tragik und Sinn zu substituieren, Friedrich Nietzsche,
verlor zuletzt die Geduld und rief (in „Ecce homo“) aus:
„Alle grossen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben
sie auf dem Gewissen“! Und er versuchte nachzuweisen,
wie die Deutschen an allen entscheidenden Wendepunkten
der europäischen Geschichte aus Feigheit vor der Realität,
aus einer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit,
aus „Idealismus“ Europa um die Ernte und den Sinn ge-
bracht hätten.

Sie protestierten, sie erfanden jene „sittliche Weltord-
nung“, von der sie behaupten, dass sie von ihnen bewahrt
und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auser-
wählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, wes-
halb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren
Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus,
vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose
die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre
Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und
Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern,
denen sie sich überlegen fühlten. Sie fanden nie die freund-
liche, höfliche Einstellung zu den Dingen, sie identifizierten
sich nicht mit den eignen Gedanken. Jedes Rütteln an ihrer

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[1/0009] EINLEITUNG 1. Jemand hat die Deutschen das protestierende Volk ge- nannt, ohne dass doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten; und obwohl Dostojewsky ein Russe war, glaubte er keines- wegs an eine mystische deutsche Sendung, die sich irgendwann im Laufe der Jahrhunderte einmal offenbaren werde. Ein anderer aber, der sich sein Leben lang bemüht hatte, den Deutschen Tiefe, Tragik und Sinn zu substituieren, Friedrich Nietzsche, verlor zuletzt die Geduld und rief (in „Ecce homo“) aus: „Alle grossen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen“! Und er versuchte nachzuweisen, wie die Deutschen an allen entscheidenden Wendepunkten der europäischen Geschichte aus Feigheit vor der Realität, aus einer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus „Idealismus“ Europa um die Ernte und den Sinn ge- bracht hätten. Sie protestierten, sie erfanden jene „sittliche Weltord- nung“, von der sie behaupten, dass sie von ihnen bewahrt und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auser- wählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, wes- halb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus, vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern, denen sie sich überlegen fühlten. Sie fanden nie die freund- liche, höfliche Einstellung zu den Dingen, sie identifizierten sich nicht mit den eignen Gedanken. Jedes Rütteln an ihrer

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/9>, abgerufen am 28.03.2024.