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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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sie spricht ihm sogar Göttlichkeit zu und lässt Messen lesen
zu seiner Besänftigung, statt ihn abzuschaffen. Solche Theo-
dizee versucht heute 43) das germanophile Papsttum, doch
sie scheint nur in Deutschland Schule zu machen, wo nichts
so absurd sein kann, um nicht Beifall zu finden und das
Dekorum einer fruchtlosen Intelligenz zu fristen 44).

4.

Die hohle Grosssprecherei, die im Gefolge Napoleons
überall ihren Einzug hielt, fand nirgends so lebhafte Be-
wunderung wie in Deutschland, und nirgends einen so
treulichen Niederschlag, wie in der Philosophie Hegels und
seiner Nachfolger. Wirklichkeitsfetischismus und Erfolgmoral,
Bejahung von Karriere, Ehrgeiz und Leidenschaft noch in
der zweifelhaftesten Ausprägung; Ueberlegenheitspose und
Mangel an Selbstkritik --: das sind die Motive, die den
Bewusstseinsinhalt des Atheismus ausmachen.

Doch so wenig der Osten, so wenig liess sich der
Westen vom Hegelianismus bestechen. Jene Sekte rus-
sischer Hegelianer in Moskau, der Stankjewitsch, Bjelinsky,
Ogarjew und Bakunin angehörten, zerstreute sich rasch und
erlangte keineswegs eine Bedeutung, die die weitwirkende
Produktivität der deutschen Philosophie beweisen könnte 45).
Stankjewitsch starb früh. Bjelinsky und Herzen gingen be-
geistert zur Theorie des französischen Sozialismus über. Und
auch Bakunin hatte nach seinem eigenen Geständnis bereits
1842 die Hegel'sche Philosophie durchschaut und "in sich
beiseite gebracht" 46). In "Anarchie und Staatstum" (1873)
wandte er sich sogar gegen die radikalsten Junghegelianer
mit den Worten: "An der Spitze dieser Partei stand Lud-
wig Feuerbach, den die logische Konsequenz nicht nur
zur Leugnung jeder göttlichen Welt, sondern auch zur Leug-
nung der Metaphysik selbst führte. Weiter konnte er nicht
gehen. Er selbst blieb trotz alledem ein Metaphysiker. Er

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sie spricht ihm sogar Göttlichkeit zu und lässt Messen lesen
zu seiner Besänftigung, statt ihn abzuschaffen. Solche Theo-
dizee versucht heute 43) das germanophile Papsttum, doch
sie scheint nur in Deutschland Schule zu machen, wo nichts
so absurd sein kann, um nicht Beifall zu finden und das
Dekorum einer fruchtlosen Intelligenz zu fristen 44).

4.

Die hohle Grosssprecherei, die im Gefolge Napoleons
überall ihren Einzug hielt, fand nirgends so lebhafte Be-
wunderung wie in Deutschland, und nirgends einen so
treulichen Niederschlag, wie in der Philosophie Hegels und
seiner Nachfolger. Wirklichkeitsfetischismus und Erfolgmoral,
Bejahung von Karriere, Ehrgeiz und Leidenschaft noch in
der zweifelhaftesten Ausprägung; Ueberlegenheitspose und
Mangel an Selbstkritik —: das sind die Motive, die den
Bewusstseinsinhalt des Atheismus ausmachen.

Doch so wenig der Osten, so wenig liess sich der
Westen vom Hegelianismus bestechen. Jene Sekte rus-
sischer Hegelianer in Moskau, der Stankjewitsch, Bjelinsky,
Ogarjew und Bakunin angehörten, zerstreute sich rasch und
erlangte keineswegs eine Bedeutung, die die weitwirkende
Produktivität der deutschen Philosophie beweisen könnte 45).
Stankjewitsch starb früh. Bjelinsky und Herzen gingen be-
geistert zur Theorie des französischen Sozialismus über. Und
auch Bakunin hatte nach seinem eigenen Geständnis bereits
1842 die Hegel'sche Philosophie durchschaut und „in sich
beiseite gebracht“ 46). In „Anarchie und Staatstum“ (1873)
wandte er sich sogar gegen die radikalsten Junghegelianer
mit den Worten: „An der Spitze dieser Partei stand Lud-
wig Feuerbach, den die logische Konsequenz nicht nur
zur Leugnung jeder göttlichen Welt, sondern auch zur Leug-
nung der Metaphysik selbst führte. Weiter konnte er nicht
gehen. Er selbst blieb trotz alledem ein Metaphysiker. Er

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[145/0153] sie spricht ihm sogar Göttlichkeit zu und lässt Messen lesen zu seiner Besänftigung, statt ihn abzuschaffen. Solche Theo- dizee versucht heute ⁴³⁾ das germanophile Papsttum, doch sie scheint nur in Deutschland Schule zu machen, wo nichts so absurd sein kann, um nicht Beifall zu finden und das Dekorum einer fruchtlosen Intelligenz zu fristen ⁴⁴⁾ . 4. Die hohle Grosssprecherei, die im Gefolge Napoleons überall ihren Einzug hielt, fand nirgends so lebhafte Be- wunderung wie in Deutschland, und nirgends einen so treulichen Niederschlag, wie in der Philosophie Hegels und seiner Nachfolger. Wirklichkeitsfetischismus und Erfolgmoral, Bejahung von Karriere, Ehrgeiz und Leidenschaft noch in der zweifelhaftesten Ausprägung; Ueberlegenheitspose und Mangel an Selbstkritik —: das sind die Motive, die den Bewusstseinsinhalt des Atheismus ausmachen. Doch so wenig der Osten, so wenig liess sich der Westen vom Hegelianismus bestechen. Jene Sekte rus- sischer Hegelianer in Moskau, der Stankjewitsch, Bjelinsky, Ogarjew und Bakunin angehörten, zerstreute sich rasch und erlangte keineswegs eine Bedeutung, die die weitwirkende Produktivität der deutschen Philosophie beweisen könnte ⁴⁵⁾ . Stankjewitsch starb früh. Bjelinsky und Herzen gingen be- geistert zur Theorie des französischen Sozialismus über. Und auch Bakunin hatte nach seinem eigenen Geständnis bereits 1842 die Hegel'sche Philosophie durchschaut und „in sich beiseite gebracht“ ⁴⁶⁾ . In „Anarchie und Staatstum“ (1873) wandte er sich sogar gegen die radikalsten Junghegelianer mit den Worten: „An der Spitze dieser Partei stand Lud- wig Feuerbach, den die logische Konsequenz nicht nur zur Leugnung jeder göttlichen Welt, sondern auch zur Leug- nung der Metaphysik selbst führte. Weiter konnte er nicht gehen. Er selbst blieb trotz alledem ein Metaphysiker. Er 10

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/153>, abgerufen am 29.03.2024.