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Basedow, Johann Bernhard: Die ganze Natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger. Halle (Saale) u. a., [1768].

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aus natürlicher Erkenntniß etc.
§. 45.

Jch kann dir nicht rathen, alle und jede Ver-
stellung zu meiden.
Denn einige ist offenbar
liebreich, oder verhütet unsern eignen Schaden,
und unsre eigne Unbequemlichkeit, ohne irgend je-
manden zu beleidigen. Es ist den Tugendhaftesten
und Weisesten zuweilen sogar rathsam und unver-
meidlich, die Unwahrheit ausdrücklich zu sagen.
Aber die meiste Verstellung hat schlimme Ursache,
Zwecke und Wirkungen. Nur derjenige lügt,
welcher ohne Recht die Unwahrheit sagt, oder sich
verstellt.

Wer wird einem bekannten Lügner glauben? Wie
kann er mit Ehre und Vergnügen unter Menschen
leben, wenn ihm nicht geglaubt wird?

Eine jede erlaubte Verstellung und Unwahrheit
muß durch eine besondre dringende Ursache, welche
mit der Tugend besteht, gerechtfertiget werden.
Die Aufrichtigkeit aber in Worten und Minen
ist so natürlich, und von so allgemeinem Nutzen,
daß man sie ausüben muß, so oft das Gegentheil
nicht offenbar ist. Die Pflicht der Aufrichtigkeit
ist eine Regel, das Recht der Verstellung ist eine
Ausnahme.

Die sündlichsten Lügen sind Verleumdung;
und diejenigen, welche die Absicht haben, durch
Betrug fremdes Guth zu gewinnen. Und dennoch
ist das Laster dieser Lügen sehr ausgebreitet. Halte

dich
G 2
aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc.
§. 45.

Jch kann dir nicht rathen, alle und jede Ver-
ſtellung zu meiden.
Denn einige iſt offenbar
liebreich, oder verhuͤtet unſern eignen Schaden,
und unſre eigne Unbequemlichkeit, ohne irgend je-
manden zu beleidigen. Es iſt den Tugendhafteſten
und Weiſeſten zuweilen ſogar rathſam und unver-
meidlich, die Unwahrheit ausdruͤcklich zu ſagen.
Aber die meiſte Verſtellung hat ſchlimme Urſache,
Zwecke und Wirkungen. Nur derjenige lügt,
welcher ohne Recht die Unwahrheit ſagt, oder ſich
verſtellt.

Wer wird einem bekañten Luͤgner glauben? Wie
kann er mit Ehre und Vergnuͤgen unter Menſchen
leben, wenn ihm nicht geglaubt wird?

Eine jede erlaubte Verſtellung und Unwahrheit
muß durch eine beſondre dringende Urſache, welche
mit der Tugend beſteht, gerechtfertiget werden.
Die Aufrichtigkeit aber in Worten und Minen
iſt ſo natuͤrlich, und von ſo allgemeinem Nutzen,
daß man ſie ausuͤben muß, ſo oft das Gegentheil
nicht offenbar iſt. Die Pflicht der Aufrichtigkeit
iſt eine Regel, das Recht der Verſtellung iſt eine
Ausnahme.

Die ſündlichſten Lügen ſind Verleumdung;
und diejenigen, welche die Abſicht haben, durch
Betrug fremdes Guth zu gewinnen. Und dennoch
iſt das Laſter dieſer Luͤgen ſehr ausgebreitet. Halte

dich
G 2
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[99/0123] aus natuͤrlicher Erkenntniß ꝛc. §. 45. Jch kann dir nicht rathen, alle und jede Ver- ſtellung zu meiden. Denn einige iſt offenbar liebreich, oder verhuͤtet unſern eignen Schaden, und unſre eigne Unbequemlichkeit, ohne irgend je- manden zu beleidigen. Es iſt den Tugendhafteſten und Weiſeſten zuweilen ſogar rathſam und unver- meidlich, die Unwahrheit ausdruͤcklich zu ſagen. Aber die meiſte Verſtellung hat ſchlimme Urſache, Zwecke und Wirkungen. Nur derjenige lügt, welcher ohne Recht die Unwahrheit ſagt, oder ſich verſtellt. Wer wird einem bekañten Luͤgner glauben? Wie kann er mit Ehre und Vergnuͤgen unter Menſchen leben, wenn ihm nicht geglaubt wird? Eine jede erlaubte Verſtellung und Unwahrheit muß durch eine beſondre dringende Urſache, welche mit der Tugend beſteht, gerechtfertiget werden. Die Aufrichtigkeit aber in Worten und Minen iſt ſo natuͤrlich, und von ſo allgemeinem Nutzen, daß man ſie ausuͤben muß, ſo oft das Gegentheil nicht offenbar iſt. Die Pflicht der Aufrichtigkeit iſt eine Regel, das Recht der Verſtellung iſt eine Ausnahme. Die ſündlichſten Lügen ſind Verleumdung; und diejenigen, welche die Abſicht haben, durch Betrug fremdes Guth zu gewinnen. Und dennoch iſt das Laſter dieſer Luͤgen ſehr ausgebreitet. Halte dich G 2

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Zitationshilfe: Basedow, Johann Bernhard: Die ganze Natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger. Halle (Saale) u. a., [1768], S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/basedow_weisheit_1768/123>, abgerufen am 28.03.2024.