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Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895.

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Man sagt zur Vertheidigung des Dreiklassenwahlsystems, daß es den Besitz
gegenüber der großen besitzlosen Klasse zur Geltung bringe. Das ist, wie die
kolossale Verschiedenheit der Steuersätze in jeder Wählerklasse darthut, eine grobe
Unwahrheit oder Täuschung. Wenn beispielsweise in Berlin in einem Wahlkreis
ein Wähler mit einem Steuersatz von 40819 Mk. und ein anderer mit einem
solchen von 20 Mk., je nach dem Urwahlbezirk, in dem er wohnt, in der ersten
Klasse wählt, so steht auf der einen Seite ein vielfacher Millionär einem kleinen
Geschäftsmann, kleinen Beamten oder gut bezahlten Arbeiter mit 1500-1800 Mk.
Einkommen gegenüber. Jn demselben Wahlkreis kommt aber ein anderer viel-
facher Millionär mit einem Steuersatz von 10546 Mk. und einem Arbeiter, der
nur 9 Mk. Steuern zahlt, in die zweite Wählerklasse. Aehnliche Beispiele sind
nicht vereinzelt, sie sind typisch.

Jn der Breitenstraße in Berlin, deren Häuser zu verschiedenen Urwahl-
bezirken gehören, ist man mit einem Steuerbetrag von 147 Mk. im Hause Nr. 7
in der dritten Wählerklasse, im Hause Nr. 8 in der zweiten. Jn dem dicht dabei
liegenden Köllnischen Fischmarkt kommt man aber mit diesem Steuersatz in die
1. Wählerklasse. Jn einem Theil der Scharrnstraße steht der Wähler mit 272 Mk.
Steuer in der 2. Klasse, wenn sein Name mit dem Buchstaben A oder B beginnt;
beginnt derselbe jedoch mit einem anderen Buchstaben, so kommt er in die 3. Wähler-
klasse. Wir fragen wieder: Wo bleibt da Prinzip, Vernunft, Gerechtigkeit?

Zeigen die angeführten Beispiele, daß selbst der Besitz unter dem Drei-
klassenwahlsystem mißhandelt wird, so geschieht das mit der "Bildung" genau
ebenso. Aus Bonn wird berichtet, daß der Oberbürgermeister, der Landrath und
fast sämmtliche Professoren der Universität in der 3. Klasse wählen. Jn Berlin,
Cöln, Magdeburg, Halle, Aachen und den großen und mittleren Städten der
Monarchie wählt der größte Theil der höheren Staatsbeamten, der Professoren,
Richter, Aerzte, Juristen, höheren Lehrer, Schriftsteller in der 3. Wählerklasse,
wohingegen Börsenjobber, glückliche Grundstücksspekulanten und reich gewordene
Fleischer- und Bäckermeister, die den Dativ von dem Akkusativ nicht zu unter-
scheiden vermögen, oft in der 1. Klasse wählen.

Jn dem 58. Urwahlbezirk, den die Boßstraße in Berlin bildet, gab es
189 Wahlberechtigte. Jn dieser Straße wohnten der Reichskanzler, 3 Minister,
3 Geheimräthe und Räthe, 3 Rittergutsbesitzer und Majoratsherren, 12 Geheime
Kommerzienräthe etc, neben einer Anzahl Bureau- und Kanzleibeamten, Köche, Kellner,
Heizer und Portiers der erwähnten Herren. Jn diesem Urwahlbezirk bildeten zwei
Vertreter des Großhandels und der Großindustrie die 1. Wählerklasse. Vier Ver-
treter des Großhandels und der Großindustrie und ein Rittergutsbesitzer bildeten
die 2. Wählerklasse. Alle übrigen Wähler, darunter der Reichskanzler, drei
Minister, eine Anzahl Geheimer Kommerzienräthe, Bankiers etc.
bildeten mit ihren Kammerdienern, Lakaien, Köchen, Portiers,
Heizern etc. die 3. Klasse
.

Von den 10 preußischen Ministern gehörten der Reichskanzler, der Minister-
präsident Graf zu Eulenburg, der Vizepräsident Dr. v. Bötticher, der Justiz-
minister, der Eisenbahnminister und der Kultusminister in die 3. Wählerklasse,
der Finanzminister Dr. Miquel, der Handelsminister und der Landwirthschaftsminister
in die 2. Klasse. Der Kriegsminister besitzt als aktiver Soldat kein Wahlrecht. Von
den wahlberechtigten 9 Ministern wählte nicht einer in der 1. Klasse
.

Alles was in Berlin zur "Jntelligenz" sich zählt, gehört mit den Arbeitern in die
3.Klasse. Die höchsten Staatsbeamten, die ersten Gelehrten, die bekanntesten Schrift-
steller, die hervorragendsten Künstler sind fast ohne Ausnahme Wähler der 3. Klasse.

So spricht die Praxis des Wahlsystems den Grundsätzen, die es zur Geltung
bringen soll, vielfach Hohn und giebt das System und seine Vertheidiger der
Lächerlichkeit Preis.

Diese Unnatur des Wahlsystems, verbunden mit dem Zwang zur öffentlichen
Stimmabgabe hat auch veranlaßt, daß die Betheiligung bei den Wahlen von Wahl-

Man sagt zur Vertheidigung des Dreiklassenwahlsystems, daß es den Besitz
gegenüber der großen besitzlosen Klasse zur Geltung bringe. Das ist, wie die
kolossale Verschiedenheit der Steuersätze in jeder Wählerklasse darthut, eine grobe
Unwahrheit oder Täuschung. Wenn beispielsweise in Berlin in einem Wahlkreis
ein Wähler mit einem Steuersatz von 40819 Mk. und ein anderer mit einem
solchen von 20 Mk., je nach dem Urwahlbezirk, in dem er wohnt, in der ersten
Klasse wählt, so steht auf der einen Seite ein vielfacher Millionär einem kleinen
Geschäftsmann, kleinen Beamten oder gut bezahlten Arbeiter mit 1500-1800 Mk.
Einkommen gegenüber. Jn demselben Wahlkreis kommt aber ein anderer viel-
facher Millionär mit einem Steuersatz von 10546 Mk. und einem Arbeiter, der
nur 9 Mk. Steuern zahlt, in die zweite Wählerklasse. Aehnliche Beispiele sind
nicht vereinzelt, sie sind typisch.

Jn der Breitenstraße in Berlin, deren Häuser zu verschiedenen Urwahl-
bezirken gehören, ist man mit einem Steuerbetrag von 147 Mk. im Hause Nr. 7
in der dritten Wählerklasse, im Hause Nr. 8 in der zweiten. Jn dem dicht dabei
liegenden Köllnischen Fischmarkt kommt man aber mit diesem Steuersatz in die
1. Wählerklasse. Jn einem Theil der Scharrnstraße steht der Wähler mit 272 Mk.
Steuer in der 2. Klasse, wenn sein Name mit dem Buchstaben A oder B beginnt;
beginnt derselbe jedoch mit einem anderen Buchstaben, so kommt er in die 3. Wähler-
klasse. Wir fragen wieder: Wo bleibt da Prinzip, Vernunft, Gerechtigkeit?

Zeigen die angeführten Beispiele, daß selbst der Besitz unter dem Drei-
klassenwahlsystem mißhandelt wird, so geschieht das mit der „Bildung“ genau
ebenso. Aus Bonn wird berichtet, daß der Oberbürgermeister, der Landrath und
fast sämmtliche Professoren der Universität in der 3. Klasse wählen. Jn Berlin,
Cöln, Magdeburg, Halle, Aachen und den großen und mittleren Städten der
Monarchie wählt der größte Theil der höheren Staatsbeamten, der Professoren,
Richter, Aerzte, Juristen, höheren Lehrer, Schriftsteller in der 3. Wählerklasse,
wohingegen Börsenjobber, glückliche Grundstücksspekulanten und reich gewordene
Fleischer- und Bäckermeister, die den Dativ von dem Akkusativ nicht zu unter-
scheiden vermögen, oft in der 1. Klasse wählen.

Jn dem 58. Urwahlbezirk, den die Boßstraße in Berlin bildet, gab es
189 Wahlberechtigte. Jn dieser Straße wohnten der Reichskanzler, 3 Minister,
3 Geheimräthe und Räthe, 3 Rittergutsbesitzer und Majoratsherren, 12 Geheime
Kommerzienräthe ꝛc, neben einer Anzahl Bureau- und Kanzleibeamten, Köche, Kellner,
Heizer und Portiers der erwähnten Herren. Jn diesem Urwahlbezirk bildeten zwei
Vertreter des Großhandels und der Großindustrie die 1. Wählerklasse. Vier Ver-
treter des Großhandels und der Großindustrie und ein Rittergutsbesitzer bildeten
die 2. Wählerklasse. Alle übrigen Wähler, darunter der Reichskanzler, drei
Minister, eine Anzahl Geheimer Kommerzienräthe, Bankiers ꝛc.
bildeten mit ihren Kammerdienern, Lakaien, Köchen, Portiers,
Heizern ꝛc. die 3. Klasse
.

Von den 10 preußischen Ministern gehörten der Reichskanzler, der Minister-
präsident Graf zu Eulenburg, der Vizepräsident Dr. v. Bötticher, der Justiz-
minister, der Eisenbahnminister und der Kultusminister in die 3. Wählerklasse,
der Finanzminister Dr. Miquel, der Handelsminister und der Landwirthschaftsminister
in die 2. Klasse. Der Kriegsminister besitzt als aktiver Soldat kein Wahlrecht. Von
den wahlberechtigten 9 Ministern wählte nicht einer in der 1. Klasse
.

Alles was in Berlin zur „Jntelligenz“ sich zählt, gehört mit den Arbeitern in die
3.Klasse. Die höchsten Staatsbeamten, die ersten Gelehrten, die bekanntesten Schrift-
steller, die hervorragendsten Künstler sind fast ohne Ausnahme Wähler der 3. Klasse.

So spricht die Praxis des Wahlsystems den Grundsätzen, die es zur Geltung
bringen soll, vielfach Hohn und giebt das System und seine Vertheidiger der
Lächerlichkeit Preis.

Diese Unnatur des Wahlsystems, verbunden mit dem Zwang zur öffentlichen
Stimmabgabe hat auch veranlaßt, daß die Betheiligung bei den Wahlen von Wahl-

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[23/0027] Man sagt zur Vertheidigung des Dreiklassenwahlsystems, daß es den Besitz gegenüber der großen besitzlosen Klasse zur Geltung bringe. Das ist, wie die kolossale Verschiedenheit der Steuersätze in jeder Wählerklasse darthut, eine grobe Unwahrheit oder Täuschung. Wenn beispielsweise in Berlin in einem Wahlkreis ein Wähler mit einem Steuersatz von 40819 Mk. und ein anderer mit einem solchen von 20 Mk., je nach dem Urwahlbezirk, in dem er wohnt, in der ersten Klasse wählt, so steht auf der einen Seite ein vielfacher Millionär einem kleinen Geschäftsmann, kleinen Beamten oder gut bezahlten Arbeiter mit 1500-1800 Mk. Einkommen gegenüber. Jn demselben Wahlkreis kommt aber ein anderer viel- facher Millionär mit einem Steuersatz von 10546 Mk. und einem Arbeiter, der nur 9 Mk. Steuern zahlt, in die zweite Wählerklasse. Aehnliche Beispiele sind nicht vereinzelt, sie sind typisch. Jn der Breitenstraße in Berlin, deren Häuser zu verschiedenen Urwahl- bezirken gehören, ist man mit einem Steuerbetrag von 147 Mk. im Hause Nr. 7 in der dritten Wählerklasse, im Hause Nr. 8 in der zweiten. Jn dem dicht dabei liegenden Köllnischen Fischmarkt kommt man aber mit diesem Steuersatz in die 1. Wählerklasse. Jn einem Theil der Scharrnstraße steht der Wähler mit 272 Mk. Steuer in der 2. Klasse, wenn sein Name mit dem Buchstaben A oder B beginnt; beginnt derselbe jedoch mit einem anderen Buchstaben, so kommt er in die 3. Wähler- klasse. Wir fragen wieder: Wo bleibt da Prinzip, Vernunft, Gerechtigkeit? Zeigen die angeführten Beispiele, daß selbst der Besitz unter dem Drei- klassenwahlsystem mißhandelt wird, so geschieht das mit der „Bildung“ genau ebenso. Aus Bonn wird berichtet, daß der Oberbürgermeister, der Landrath und fast sämmtliche Professoren der Universität in der 3. Klasse wählen. Jn Berlin, Cöln, Magdeburg, Halle, Aachen und den großen und mittleren Städten der Monarchie wählt der größte Theil der höheren Staatsbeamten, der Professoren, Richter, Aerzte, Juristen, höheren Lehrer, Schriftsteller in der 3. Wählerklasse, wohingegen Börsenjobber, glückliche Grundstücksspekulanten und reich gewordene Fleischer- und Bäckermeister, die den Dativ von dem Akkusativ nicht zu unter- scheiden vermögen, oft in der 1. Klasse wählen. Jn dem 58. Urwahlbezirk, den die Boßstraße in Berlin bildet, gab es 189 Wahlberechtigte. Jn dieser Straße wohnten der Reichskanzler, 3 Minister, 3 Geheimräthe und Räthe, 3 Rittergutsbesitzer und Majoratsherren, 12 Geheime Kommerzienräthe ꝛc, neben einer Anzahl Bureau- und Kanzleibeamten, Köche, Kellner, Heizer und Portiers der erwähnten Herren. Jn diesem Urwahlbezirk bildeten zwei Vertreter des Großhandels und der Großindustrie die 1. Wählerklasse. Vier Ver- treter des Großhandels und der Großindustrie und ein Rittergutsbesitzer bildeten die 2. Wählerklasse. Alle übrigen Wähler, darunter der Reichskanzler, drei Minister, eine Anzahl Geheimer Kommerzienräthe, Bankiers ꝛc. bildeten mit ihren Kammerdienern, Lakaien, Köchen, Portiers, Heizern ꝛc. die 3. Klasse. Von den 10 preußischen Ministern gehörten der Reichskanzler, der Minister- präsident Graf zu Eulenburg, der Vizepräsident Dr. v. Bötticher, der Justiz- minister, der Eisenbahnminister und der Kultusminister in die 3. Wählerklasse, der Finanzminister Dr. Miquel, der Handelsminister und der Landwirthschaftsminister in die 2. Klasse. Der Kriegsminister besitzt als aktiver Soldat kein Wahlrecht. Von den wahlberechtigten 9 Ministern wählte nicht einer in der 1. Klasse. Alles was in Berlin zur „Jntelligenz“ sich zählt, gehört mit den Arbeitern in die 3.Klasse. Die höchsten Staatsbeamten, die ersten Gelehrten, die bekanntesten Schrift- steller, die hervorragendsten Künstler sind fast ohne Ausnahme Wähler der 3. Klasse. So spricht die Praxis des Wahlsystems den Grundsätzen, die es zur Geltung bringen soll, vielfach Hohn und giebt das System und seine Vertheidiger der Lächerlichkeit Preis. Diese Unnatur des Wahlsystems, verbunden mit dem Zwang zur öffentlichen Stimmabgabe hat auch veranlaßt, daß die Betheiligung bei den Wahlen von Wahl-

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-30T15:09:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-30T15:09:45Z)

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Zitationshilfe: Bebel, August: Die Sozialdemokratie und das Allgemeine Stimmrecht. Berlin, 1895, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bebel_sozialdemokratie_1895/27>, abgerufen am 16.04.2024.