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Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884.

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Die Semiten.
Schlamm der beiden Ströme in regelmässiger Wiederkehr das inselartig
eingeschlossene Land, eine Fruchtbarkeit erzeugend, welche die Schrift-
steller des Altertums, vor allem der ehrwürdige Herodot, nicht genug
preisen können. Diese regelmässigen Überflutungen führten zu Beob-
achtungen der Jahreszeit, zur Einteilung des Jahres, zu astronomischen
Erfahrungen, wie zu einer ausgeprägten Ordnung des Lebens. Sie führten
ferner zu Schutzbauten, zur Anlage von Dämmen und Kanälen, um den
Segen des Frühlings gleichmässig über das Land zu verteilen. Hier wie
dort veranlassten die Überflutungen die Anlage mächtiger Steinbauten,
die dem Andrange der schlammigen Sommerflut stand zu halten vermoch-
ten. Diese gemeinschaftlichen Unternehmungen führten zur Organisation
der Gesellschaft, zur Gründung eines grossen Gemeinwesens unter fester
monarchischer Spitze. Dieser Übereinstimmung zwischen Ägypten und
dem Euphrat- und Tigrislande stehen aber ebenso scharf ausgeprägte
Gegensätze gegenüber. Zunächst sind es hier zwei Flüsse, dort nur einer.
Diese Flüsse sind nicht gleichmässig in ihrem Charakter und Verhalten.
Der Tigris tritt als ein wilder Sohn der Berge aus dem geschlossenen Ge-
birge hervor und verliert diesen Charakter nicht bis zu seiner Ver-
einigung mit dem majestätischen Euphrat. In raschem, kürzeren Laufe
eilt er dem Meere zu, genährt durch Flüsse und rauschende Bergwässer,
die er von dem östlichen Hochgebirge, an das er sich immer anzu-
schmiegen sucht, aufnimmt. Der Euphrat dagegen verlässt als ein
wasserreicher Strom das Hochgebirge und eilt in einem nach Westen
ausgeschweiften Bogen in ruhigem, stolzen Lauf, der Wüste den Frucht-
boden abringend, dem Meere zu. Wenige Nebenflüsse schwellen seinen
untern Lauf. Infolge dieser Verschiedenheit ist auch die Zeit der
Überschwemmungen eine ungleiche; während der Tigris, dessen Quellen
nicht in so hohen Regionen liegen, bereits im Juni aus seinen Ufern
tritt, beginnen die Überschwemmungen des Euphrat, der in den höchsten
Höhen Armeniens am Fusse des Arrarat seine Heimat hat, erst im Juli.
Die Überschwemmungen beider Ströme treten aber überhaupt nicht
mit der fast mathematischen Regelmässigkeit wie die des Nils ein, sie
sind wilder, zerstörender, besonders die des Tigris oft verheerend.
Aus diesem Grunde ladet das Thal des Euphrat mehr zur Kolonisation
und zur Anlage grosser Städte ein. Ein anderer grosser Unterschied
zwischen Ägypten und dem Lande des Euphrat und Tigris besteht darin,
dass ersteres rings abgeschlossen gleich einer Insel, den feindlichen
Einfällen fremder Völker wenig ausgesetzt war, während dieses in einem
gewaltigen Halbkreis von Gebirgen umschlossen ist, welche von krie-
gerischen, kräftigen Volksstämmen bewohnt waren. Der Reichtum des

Die Semiten.
Schlamm der beiden Ströme in regelmäſsiger Wiederkehr das inselartig
eingeschlossene Land, eine Fruchtbarkeit erzeugend, welche die Schrift-
steller des Altertums, vor allem der ehrwürdige Herodot, nicht genug
preisen können. Diese regelmäſsigen Überflutungen führten zu Beob-
achtungen der Jahreszeit, zur Einteilung des Jahres, zu astronomischen
Erfahrungen, wie zu einer ausgeprägten Ordnung des Lebens. Sie führten
ferner zu Schutzbauten, zur Anlage von Dämmen und Kanälen, um den
Segen des Frühlings gleichmäſsig über das Land zu verteilen. Hier wie
dort veranlaſsten die Überflutungen die Anlage mächtiger Steinbauten,
die dem Andrange der schlammigen Sommerflut stand zu halten vermoch-
ten. Diese gemeinschaftlichen Unternehmungen führten zur Organisation
der Gesellschaft, zur Gründung eines groſsen Gemeinwesens unter fester
monarchischer Spitze. Dieser Übereinstimmung zwischen Ägypten und
dem Euphrat- und Tigrislande stehen aber ebenso scharf ausgeprägte
Gegensätze gegenüber. Zunächst sind es hier zwei Flüsse, dort nur einer.
Diese Flüsse sind nicht gleichmäſsig in ihrem Charakter und Verhalten.
Der Tigris tritt als ein wilder Sohn der Berge aus dem geschlossenen Ge-
birge hervor und verliert diesen Charakter nicht bis zu seiner Ver-
einigung mit dem majestätischen Euphrat. In raschem, kürzeren Laufe
eilt er dem Meere zu, genährt durch Flüsse und rauschende Bergwässer,
die er von dem östlichen Hochgebirge, an das er sich immer anzu-
schmiegen sucht, aufnimmt. Der Euphrat dagegen verläſst als ein
wasserreicher Strom das Hochgebirge und eilt in einem nach Westen
ausgeschweiften Bogen in ruhigem, stolzen Lauf, der Wüste den Frucht-
boden abringend, dem Meere zu. Wenige Nebenflüsse schwellen seinen
untern Lauf. Infolge dieser Verschiedenheit ist auch die Zeit der
Überschwemmungen eine ungleiche; während der Tigris, dessen Quellen
nicht in so hohen Regionen liegen, bereits im Juni aus seinen Ufern
tritt, beginnen die Überschwemmungen des Euphrat, der in den höchsten
Höhen Armeniens am Fuſse des Arrarat seine Heimat hat, erst im Juli.
Die Überschwemmungen beider Ströme treten aber überhaupt nicht
mit der fast mathematischen Regelmäſsigkeit wie die des Nils ein, sie
sind wilder, zerstörender, besonders die des Tigris oft verheerend.
Aus diesem Grunde ladet das Thal des Euphrat mehr zur Kolonisation
und zur Anlage groſser Städte ein. Ein anderer groſser Unterschied
zwischen Ägypten und dem Lande des Euphrat und Tigris besteht darin,
daſs ersteres rings abgeschlossen gleich einer Insel, den feindlichen
Einfällen fremder Völker wenig ausgesetzt war, während dieses in einem
gewaltigen Halbkreis von Gebirgen umschlossen ist, welche von krie-
gerischen, kräftigen Volksstämmen bewohnt waren. Der Reichtum des

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[104/0126] Die Semiten. Schlamm der beiden Ströme in regelmäſsiger Wiederkehr das inselartig eingeschlossene Land, eine Fruchtbarkeit erzeugend, welche die Schrift- steller des Altertums, vor allem der ehrwürdige Herodot, nicht genug preisen können. Diese regelmäſsigen Überflutungen führten zu Beob- achtungen der Jahreszeit, zur Einteilung des Jahres, zu astronomischen Erfahrungen, wie zu einer ausgeprägten Ordnung des Lebens. Sie führten ferner zu Schutzbauten, zur Anlage von Dämmen und Kanälen, um den Segen des Frühlings gleichmäſsig über das Land zu verteilen. Hier wie dort veranlaſsten die Überflutungen die Anlage mächtiger Steinbauten, die dem Andrange der schlammigen Sommerflut stand zu halten vermoch- ten. Diese gemeinschaftlichen Unternehmungen führten zur Organisation der Gesellschaft, zur Gründung eines groſsen Gemeinwesens unter fester monarchischer Spitze. Dieser Übereinstimmung zwischen Ägypten und dem Euphrat- und Tigrislande stehen aber ebenso scharf ausgeprägte Gegensätze gegenüber. Zunächst sind es hier zwei Flüsse, dort nur einer. Diese Flüsse sind nicht gleichmäſsig in ihrem Charakter und Verhalten. Der Tigris tritt als ein wilder Sohn der Berge aus dem geschlossenen Ge- birge hervor und verliert diesen Charakter nicht bis zu seiner Ver- einigung mit dem majestätischen Euphrat. In raschem, kürzeren Laufe eilt er dem Meere zu, genährt durch Flüsse und rauschende Bergwässer, die er von dem östlichen Hochgebirge, an das er sich immer anzu- schmiegen sucht, aufnimmt. Der Euphrat dagegen verläſst als ein wasserreicher Strom das Hochgebirge und eilt in einem nach Westen ausgeschweiften Bogen in ruhigem, stolzen Lauf, der Wüste den Frucht- boden abringend, dem Meere zu. Wenige Nebenflüsse schwellen seinen untern Lauf. Infolge dieser Verschiedenheit ist auch die Zeit der Überschwemmungen eine ungleiche; während der Tigris, dessen Quellen nicht in so hohen Regionen liegen, bereits im Juni aus seinen Ufern tritt, beginnen die Überschwemmungen des Euphrat, der in den höchsten Höhen Armeniens am Fuſse des Arrarat seine Heimat hat, erst im Juli. Die Überschwemmungen beider Ströme treten aber überhaupt nicht mit der fast mathematischen Regelmäſsigkeit wie die des Nils ein, sie sind wilder, zerstörender, besonders die des Tigris oft verheerend. Aus diesem Grunde ladet das Thal des Euphrat mehr zur Kolonisation und zur Anlage groſser Städte ein. Ein anderer groſser Unterschied zwischen Ägypten und dem Lande des Euphrat und Tigris besteht darin, daſs ersteres rings abgeschlossen gleich einer Insel, den feindlichen Einfällen fremder Völker wenig ausgesetzt war, während dieses in einem gewaltigen Halbkreis von Gebirgen umschlossen ist, welche von krie- gerischen, kräftigen Volksstämmen bewohnt waren. Der Reichtum des

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Zitationshilfe: Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beck_eisen01_1884/126>, abgerufen am 16.04.2024.