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Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884.

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Turanier und Mongolen.
kasanischen Tataren gehören, zu der zweiten werden die Kirgisen,
Baschkiren, Jakuten und mehrere tatarische Völker Sibiriens gezählt,
dann kommen die eigentlichen Türken oder Osmanen. Eine vierte
Gruppe bilden die Samojeden im hohen Norden von Asien und endlich
eine fünfte, die zersplitterte finnische Gruppe, zu der insbesondere die
Finnen und die Magyaren gehören, die den europäischen Kulturvölkern
am nächsten stehen.

Die turanischen Völker sind vielfach geteilt in Stämme, Horden
und Fürstentümer, die sich untereinander befehden und höhere
gemeinschaftliche Ziele nicht kennen. Demungeachtet haben sie
wiederholt unter der Leitung thatkräftiger Herrscher sich in grössere
Verbände zusammengeschlossen und die Grenzen ihrer Wohnsitze
erobernd und verheerend überschritten. Solche verheerende Kriegszüge
turanischer Völkerschaften wälzten sich nach Osten in das chinesische
Reich, wie nach Westen über Persien, Syrien, Kleinasien und das öst-
liche Europa. Wir erinnern nur an den siegreichen Zug der Skythen
im siebenten Jahrhundert v. Chr., der der assyrischen Herrschaft den
Todesstoss gab, Syrien und Kleinasien überflutete; an den Zug der
Hunnen, der die Veranlassung der Völkerwanderung wurde, an die
Kriegszüge Dschingiskhans und Timurs, und endlich an die Kriegszüge
der Osmanen.

Unzweifelhaft ist die Geschichte der turanischen Völkerfamilie
nicht minder alt als die der semitischen und arischen, aber wir haben
hier Völker vor uns, die aller historischer Aufzeichnungen, selbst aller
Denkmale zum Gedächtnis ihrer Thaten und Erlebnisse entbehren.
Deshalb ruht ihre Geschichte auf unsicherer Grundlage und bleibt
vielfach hypothetisch. Sprachforscher und Ethnologen sind geneigt,
der turanischen Völkerfamilie ein ganz besonders hohes Alter zu-
zuschreiben und ihnen eine hervorragende Rolle in prähistorischer Zeit
zu vindizieren. Besonders sind es die französischen Sprachgelehrten
D'Eckstein und Lenormand 1), welche diese Ansicht vertreten. Von
diesen rührt auch das Gleichnis her, die turanischen Völkerzüge seien
in ethnologischer Beziehung wie eine ältere, geologische Formation
anzusehen, die von den arischen und semitischen Stämmen überdeckt
sei. So geistreich und bestechend dieses Bild sein mag, so darf man
doch nicht vergessen, dass zwischen lebenden Völkern und toten Ge-
birgsschichten stets ein wesentlicher Unterschied bestehen bleibt. Die
abgelagerte Formation ist etwas Abgeschlossenes, Vergangenes, eine

1) Lenormand, Die Anfänge der Kultur, Jena 1875.

Turanier und Mongolen.
kasanischen Tataren gehören, zu der zweiten werden die Kirgisen,
Baschkiren, Jakuten und mehrere tatarische Völker Sibiriens gezählt,
dann kommen die eigentlichen Türken oder Osmanen. Eine vierte
Gruppe bilden die Samojeden im hohen Norden von Asien und endlich
eine fünfte, die zersplitterte finnische Gruppe, zu der insbesondere die
Finnen und die Magyaren gehören, die den europäischen Kulturvölkern
am nächsten stehen.

Die turanischen Völker sind vielfach geteilt in Stämme, Horden
und Fürstentümer, die sich untereinander befehden und höhere
gemeinschaftliche Ziele nicht kennen. Demungeachtet haben sie
wiederholt unter der Leitung thatkräftiger Herrscher sich in gröſsere
Verbände zusammengeschlossen und die Grenzen ihrer Wohnsitze
erobernd und verheerend überschritten. Solche verheerende Kriegszüge
turanischer Völkerschaften wälzten sich nach Osten in das chinesische
Reich, wie nach Westen über Persien, Syrien, Kleinasien und das öst-
liche Europa. Wir erinnern nur an den siegreichen Zug der Skythen
im siebenten Jahrhundert v. Chr., der der assyrischen Herrschaft den
Todesstoſs gab, Syrien und Kleinasien überflutete; an den Zug der
Hunnen, der die Veranlassung der Völkerwanderung wurde, an die
Kriegszüge Dschingiskhans und Timurs, und endlich an die Kriegszüge
der Osmanen.

Unzweifelhaft ist die Geschichte der turanischen Völkerfamilie
nicht minder alt als die der semitischen und arischen, aber wir haben
hier Völker vor uns, die aller historischer Aufzeichnungen, selbst aller
Denkmale zum Gedächtnis ihrer Thaten und Erlebnisse entbehren.
Deshalb ruht ihre Geschichte auf unsicherer Grundlage und bleibt
vielfach hypothetisch. Sprachforscher und Ethnologen sind geneigt,
der turanischen Völkerfamilie ein ganz besonders hohes Alter zu-
zuschreiben und ihnen eine hervorragende Rolle in prähistorischer Zeit
zu vindizieren. Besonders sind es die französischen Sprachgelehrten
D’Eckstein und Lenormand 1), welche diese Ansicht vertreten. Von
diesen rührt auch das Gleichnis her, die turanischen Völkerzüge seien
in ethnologischer Beziehung wie eine ältere, geologische Formation
anzusehen, die von den arischen und semitischen Stämmen überdeckt
sei. So geistreich und bestechend dieses Bild sein mag, so darf man
doch nicht vergessen, daſs zwischen lebenden Völkern und toten Ge-
birgsschichten stets ein wesentlicher Unterschied bestehen bleibt. Die
abgelagerte Formation ist etwas Abgeschlossenes, Vergangenes, eine

1) Lenormand, Die Anfänge der Kultur, Jena 1875.
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[271/0293] Turanier und Mongolen. kasanischen Tataren gehören, zu der zweiten werden die Kirgisen, Baschkiren, Jakuten und mehrere tatarische Völker Sibiriens gezählt, dann kommen die eigentlichen Türken oder Osmanen. Eine vierte Gruppe bilden die Samojeden im hohen Norden von Asien und endlich eine fünfte, die zersplitterte finnische Gruppe, zu der insbesondere die Finnen und die Magyaren gehören, die den europäischen Kulturvölkern am nächsten stehen. Die turanischen Völker sind vielfach geteilt in Stämme, Horden und Fürstentümer, die sich untereinander befehden und höhere gemeinschaftliche Ziele nicht kennen. Demungeachtet haben sie wiederholt unter der Leitung thatkräftiger Herrscher sich in gröſsere Verbände zusammengeschlossen und die Grenzen ihrer Wohnsitze erobernd und verheerend überschritten. Solche verheerende Kriegszüge turanischer Völkerschaften wälzten sich nach Osten in das chinesische Reich, wie nach Westen über Persien, Syrien, Kleinasien und das öst- liche Europa. Wir erinnern nur an den siegreichen Zug der Skythen im siebenten Jahrhundert v. Chr., der der assyrischen Herrschaft den Todesstoſs gab, Syrien und Kleinasien überflutete; an den Zug der Hunnen, der die Veranlassung der Völkerwanderung wurde, an die Kriegszüge Dschingiskhans und Timurs, und endlich an die Kriegszüge der Osmanen. Unzweifelhaft ist die Geschichte der turanischen Völkerfamilie nicht minder alt als die der semitischen und arischen, aber wir haben hier Völker vor uns, die aller historischer Aufzeichnungen, selbst aller Denkmale zum Gedächtnis ihrer Thaten und Erlebnisse entbehren. Deshalb ruht ihre Geschichte auf unsicherer Grundlage und bleibt vielfach hypothetisch. Sprachforscher und Ethnologen sind geneigt, der turanischen Völkerfamilie ein ganz besonders hohes Alter zu- zuschreiben und ihnen eine hervorragende Rolle in prähistorischer Zeit zu vindizieren. Besonders sind es die französischen Sprachgelehrten D’Eckstein und Lenormand 1), welche diese Ansicht vertreten. Von diesen rührt auch das Gleichnis her, die turanischen Völkerzüge seien in ethnologischer Beziehung wie eine ältere, geologische Formation anzusehen, die von den arischen und semitischen Stämmen überdeckt sei. So geistreich und bestechend dieses Bild sein mag, so darf man doch nicht vergessen, daſs zwischen lebenden Völkern und toten Ge- birgsschichten stets ein wesentlicher Unterschied bestehen bleibt. Die abgelagerte Formation ist etwas Abgeschlossenes, Vergangenes, eine 1) Lenormand, Die Anfänge der Kultur, Jena 1875.

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Zitationshilfe: Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beck_eisen01_1884/293>, abgerufen am 29.03.2024.