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Martens, Eduard von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Zoologischer Teil. Erster Band. Berlin, 1876.

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Mythische Thiere der Chinesen.
daraus wenigstens die Gattungen bestimmen zu können; ferner eine
gewisse Nüchternheit des Urtheils, um die natürliche Grundlage aus
den wunderbar klingenden Berichten herauszuklauben: denn dass es
an solchen nicht mangeln wird, zeigen die zahlreichen einfüssigen,
vielköpfigen und sonstwie verzerrten Figuren, welche ganz harmlos
zwischen besseren, kenntlich gezeichneten Abbildungen vorkommen.
Die Chinesen haben alle ihnen bekannte Thiere in vier Classen,
vermuthlich nach den vier Ecken der Welt, gebracht und geben
jeder dieser Thierclassen, die nach der Körperbedeckung bestimmt
sind, einen König: den nackten Thieren den Menschen selbst, dessen
Existenz und Uebermacht allerdings nicht zu bezweifeln ist, dagegen
den Haarthieren das Einhorn, ki-lin, wohl unterschieden vom Nas-
horn, si, den Federthieren oder Vögeln eine Art Phönix, fung hwang,
den Schalthieren eine grosse Schildkröte mit Hundekopf und Haar-
schwanz, kwei, den beschuppten Thieren endlich den Drachen,
ling, eine wirklich fabelhaft abentheuerliche Gestalt mit Schlangen-
leib und Adlerkrallen.

In dem Vogelkönig wollen Einige den Argusfasan, Argus
giganteus Tem., finden, der auf Malakka, Sumatra und Borneo lebt,
aber die chinesischen Figuren zeigen keine besondere Zeichnung der
Flügel, dagegen eine regelmässige Abstufung der Länge der Schwanz-
federn, deren feine Zerzaserung an die ähnlich geformten Anhängsel
der anderen Thierkönige erinnern, und so bin ich geneigt, alle für
rein eingebildet, für die Thier-Ideale des chinesischen Geschmacks
zu halten. Drachen und Einhorn spielen bekanntlich auch eine Rolle
in den dunkleren Epochen der europäischen Bildung, die zwischen
der Blüthe des Alterthums und der Neuzeit liegen, die Beschreibungen
des Phönix, welche uns Herodot, Plinius und später der Kirchen-
vater Lactantius gegeben haben, passen ziemlich auf einen chinesischen
Vogel, den Goldfasan. Dieses deutet auf einen alten Verkehr zwischen
Occident und China, eben so wie die Bekanntschaft mit dem Löwen, 9)
von dem man in China häufig Abbildungen und Schnitzereien sieht,
letztere z. B. in Shanghai fast an jedem Pfosten der Kaufläden,
freilich hinreichend entstellt, um zu zeigen, dass die Künstler nie
einen lebenden gesehen, in vollständigem Gegensatz zum Tiger; im
ganzen Bereiche des chinesischen Reiches lebt unseres Wissens kein
Löwe, wohl aber überall der Tiger, hu, wo er nicht durch die
Dichtigkeit der menschlichen Bevölkerung verdrängt ist; er spielt
dieselbe Rolle in der Anschauung der Chinesen, wie der Löwe in

Mythische Thiere der Chinesen.
daraus wenigstens die Gattungen bestimmen zu können; ferner eine
gewisse Nüchternheit des Urtheils, um die natürliche Grundlage aus
den wunderbar klingenden Berichten herauszuklauben: denn dass es
an solchen nicht mangeln wird, zeigen die zahlreichen einfüssigen,
vielköpfigen und sonstwie verzerrten Figuren, welche ganz harmlos
zwischen besseren, kenntlich gezeichneten Abbildungen vorkommen.
Die Chinesen haben alle ihnen bekannte Thiere in vier Classen,
vermuthlich nach den vier Ecken der Welt, gebracht und geben
jeder dieser Thierclassen, die nach der Körperbedeckung bestimmt
sind, einen König: den nackten Thieren den Menschen selbst, dessen
Existenz und Uebermacht allerdings nicht zu bezweifeln ist, dagegen
den Haarthieren das Einhorn, ki-lin, wohl unterschieden vom Nas-
horn, si, den Federthieren oder Vögeln eine Art Phönix, fung hwang,
den Schalthieren eine grosse Schildkröte mit Hundekopf und Haar-
schwanz, kwei, den beschuppten Thieren endlich den Drachen,
ling, eine wirklich fabelhaft abentheuerliche Gestalt mit Schlangen-
leib und Adlerkrallen.

In dem Vogelkönig wollen Einige den Argusfasan, Argus
giganteus Tem., finden, der auf Malakka, Sumatra und Borneo lebt,
aber die chinesischen Figuren zeigen keine besondere Zeichnung der
Flügel, dagegen eine regelmässige Abstufung der Länge der Schwanz-
federn, deren feine Zerzaserung an die ähnlich geformten Anhängsel
der anderen Thierkönige erinnern, und so bin ich geneigt, alle für
rein eingebildet, für die Thier-Ideale des chinesischen Geschmacks
zu halten. Drachen und Einhorn spielen bekanntlich auch eine Rolle
in den dunkleren Epochen der europäischen Bildung, die zwischen
der Blüthe des Alterthums und der Neuzeit liegen, die Beschreibungen
des Phönix, welche uns Herodot, Plinius und später der Kirchen-
vater Lactantius gegeben haben, passen ziemlich auf einen chinesischen
Vogel, den Goldfasan. Dieses deutet auf einen alten Verkehr zwischen
Occident und China, eben so wie die Bekanntschaft mit dem Löwen, 9)
von dem man in China häufig Abbildungen und Schnitzereien sieht,
letztere z. B. in Shanghai fast an jedem Pfosten der Kaufläden,
freilich hinreichend entstellt, um zu zeigen, dass die Künstler nie
einen lebenden gesehen, in vollständigem Gegensatz zum Tiger; im
ganzen Bereiche des chinesischen Reiches lebt unseres Wissens kein
Löwe, wohl aber überall der Tiger, hu, wo er nicht durch die
Dichtigkeit der menschlichen Bevölkerung verdrängt ist; er spielt
dieselbe Rolle in der Anschauung der Chinesen, wie der Löwe in

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[170/0188] Mythische Thiere der Chinesen. daraus wenigstens die Gattungen bestimmen zu können; ferner eine gewisse Nüchternheit des Urtheils, um die natürliche Grundlage aus den wunderbar klingenden Berichten herauszuklauben: denn dass es an solchen nicht mangeln wird, zeigen die zahlreichen einfüssigen, vielköpfigen und sonstwie verzerrten Figuren, welche ganz harmlos zwischen besseren, kenntlich gezeichneten Abbildungen vorkommen. Die Chinesen haben alle ihnen bekannte Thiere in vier Classen, vermuthlich nach den vier Ecken der Welt, gebracht und geben jeder dieser Thierclassen, die nach der Körperbedeckung bestimmt sind, einen König: den nackten Thieren den Menschen selbst, dessen Existenz und Uebermacht allerdings nicht zu bezweifeln ist, dagegen den Haarthieren das Einhorn, ki-lin, wohl unterschieden vom Nas- horn, si, den Federthieren oder Vögeln eine Art Phönix, fung hwang, den Schalthieren eine grosse Schildkröte mit Hundekopf und Haar- schwanz, kwei, den beschuppten Thieren endlich den Drachen, ling, eine wirklich fabelhaft abentheuerliche Gestalt mit Schlangen- leib und Adlerkrallen. In dem Vogelkönig wollen Einige den Argusfasan, Argus giganteus Tem., finden, der auf Malakka, Sumatra und Borneo lebt, aber die chinesischen Figuren zeigen keine besondere Zeichnung der Flügel, dagegen eine regelmässige Abstufung der Länge der Schwanz- federn, deren feine Zerzaserung an die ähnlich geformten Anhängsel der anderen Thierkönige erinnern, und so bin ich geneigt, alle für rein eingebildet, für die Thier-Ideale des chinesischen Geschmacks zu halten. Drachen und Einhorn spielen bekanntlich auch eine Rolle in den dunkleren Epochen der europäischen Bildung, die zwischen der Blüthe des Alterthums und der Neuzeit liegen, die Beschreibungen des Phönix, welche uns Herodot, Plinius und später der Kirchen- vater Lactantius gegeben haben, passen ziemlich auf einen chinesischen Vogel, den Goldfasan. Dieses deutet auf einen alten Verkehr zwischen Occident und China, eben so wie die Bekanntschaft mit dem Löwen, 9) von dem man in China häufig Abbildungen und Schnitzereien sieht, letztere z. B. in Shanghai fast an jedem Pfosten der Kaufläden, freilich hinreichend entstellt, um zu zeigen, dass die Künstler nie einen lebenden gesehen, in vollständigem Gegensatz zum Tiger; im ganzen Bereiche des chinesischen Reiches lebt unseres Wissens kein Löwe, wohl aber überall der Tiger, hu, wo er nicht durch die Dichtigkeit der menschlichen Bevölkerung verdrängt ist; er spielt dieselbe Rolle in der Anschauung der Chinesen, wie der Löwe in

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Zitationshilfe: Martens, Eduard von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Zoologischer Teil. Erster Band. Berlin, 1876, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasienzoologie01_1876/188>, abgerufen am 29.03.2024.