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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Eine Nebel-Novelle.
suchte Alles, was mir die augenblickliche Verzweiflung eingab, --
aber vergeblich! --

Schon wollte ich, abgespannt und heiser, meine Rettungsver¬
suche aufgeben, als ich plötzlich meinen Stock am Ende erfaßt
fühle. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es mich; ich rufe
aufs Neue, ziehe -- und siehe da! vor mir taucht aus der Tiefe
eine menschliche Gestalt auf, -- mein Führer, der besinnungslos,
dem Tode des Ertrinkens nahe, wie es scheint, durch irgend einen
im Bett dieser Runse liegenden Felsenblock aufgehalten, minuten¬
lang (ob ganz unter dem Wasser oder mit dem Kopfe über dem¬
selben, wußte er selbst nicht) dagelegen und durch mein Schreien
und Stoßen zur Besinnung geweckt worden war. Zwei leibliche
Brüder, die nach Jahre langer Trennung sich wiederfinden, kön¬
nen einander nicht herzlicher umarmen, als mein Führer mich und
ich ihn. Er blutete stark am Hinterkopfe und vermochte nicht fest
aufzutreten, weil er sich einen Fuß bös verstaucht hatte. Nachdem
wir sitzend gerastet und berathschlagt hatten, was nun zu thun sei,
(später als Abends 7 Uhr konnte es unmöglich sein) stolperten
und hinkten wir mit halb zerrissenen Kleidern, sehr ermattet und
wolfsartig hungernd weiter, mit dem festen Vorsatz, die erste Hütte,
die wir finden würden, zu unserem Nachtlager zu erobern -- mit
oder ohne Zustimmung des Besitzers -- gleichviel.

Und siehe, das Geschick war uns günstig. Es währte nicht
lange, so tauchte in der Dunkelheit der Nacht der Giebel irgend
eines Gebäudes vor uns auf, und um die Ecke desselben biegend,
leuchteten uns plötzlich zwei helle Fenster entgegen. Hurrah! Land!
Licht! Menschen!

Zu solchen Abenteuern kann dem Wanderer im Gebirge der
Nebel verhelfen.


Eine Nebel-Novelle.
ſuchte Alles, was mir die augenblickliche Verzweiflung eingab, —
aber vergeblich! —

Schon wollte ich, abgeſpannt und heiſer, meine Rettungsver¬
ſuche aufgeben, als ich plötzlich meinen Stock am Ende erfaßt
fühle. Wie ein elektriſcher Schlag durchzuckte es mich; ich rufe
aufs Neue, ziehe — und ſiehe da! vor mir taucht aus der Tiefe
eine menſchliche Geſtalt auf, — mein Führer, der beſinnungslos,
dem Tode des Ertrinkens nahe, wie es ſcheint, durch irgend einen
im Bett dieſer Runſe liegenden Felſenblock aufgehalten, minuten¬
lang (ob ganz unter dem Waſſer oder mit dem Kopfe über dem¬
ſelben, wußte er ſelbſt nicht) dagelegen und durch mein Schreien
und Stoßen zur Beſinnung geweckt worden war. Zwei leibliche
Brüder, die nach Jahre langer Trennung ſich wiederfinden, kön¬
nen einander nicht herzlicher umarmen, als mein Führer mich und
ich ihn. Er blutete ſtark am Hinterkopfe und vermochte nicht feſt
aufzutreten, weil er ſich einen Fuß bös verſtaucht hatte. Nachdem
wir ſitzend geraſtet und berathſchlagt hatten, was nun zu thun ſei,
(ſpäter als Abends 7 Uhr konnte es unmöglich ſein) ſtolperten
und hinkten wir mit halb zerriſſenen Kleidern, ſehr ermattet und
wolfsartig hungernd weiter, mit dem feſten Vorſatz, die erſte Hütte,
die wir finden würden, zu unſerem Nachtlager zu erobern — mit
oder ohne Zuſtimmung des Beſitzers — gleichviel.

Und ſiehe, das Geſchick war uns günſtig. Es währte nicht
lange, ſo tauchte in der Dunkelheit der Nacht der Giebel irgend
eines Gebäudes vor uns auf, und um die Ecke deſſelben biegend,
leuchteten uns plötzlich zwei helle Fenſter entgegen. Hurrah! Land!
Licht! Menſchen!

Zu ſolchen Abenteuern kann dem Wanderer im Gebirge der
Nebel verhelfen.


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[130/0158] Eine Nebel-Novelle. ſuchte Alles, was mir die augenblickliche Verzweiflung eingab, — aber vergeblich! — Schon wollte ich, abgeſpannt und heiſer, meine Rettungsver¬ ſuche aufgeben, als ich plötzlich meinen Stock am Ende erfaßt fühle. Wie ein elektriſcher Schlag durchzuckte es mich; ich rufe aufs Neue, ziehe — und ſiehe da! vor mir taucht aus der Tiefe eine menſchliche Geſtalt auf, — mein Führer, der beſinnungslos, dem Tode des Ertrinkens nahe, wie es ſcheint, durch irgend einen im Bett dieſer Runſe liegenden Felſenblock aufgehalten, minuten¬ lang (ob ganz unter dem Waſſer oder mit dem Kopfe über dem¬ ſelben, wußte er ſelbſt nicht) dagelegen und durch mein Schreien und Stoßen zur Beſinnung geweckt worden war. Zwei leibliche Brüder, die nach Jahre langer Trennung ſich wiederfinden, kön¬ nen einander nicht herzlicher umarmen, als mein Führer mich und ich ihn. Er blutete ſtark am Hinterkopfe und vermochte nicht feſt aufzutreten, weil er ſich einen Fuß bös verſtaucht hatte. Nachdem wir ſitzend geraſtet und berathſchlagt hatten, was nun zu thun ſei, (ſpäter als Abends 7 Uhr konnte es unmöglich ſein) ſtolperten und hinkten wir mit halb zerriſſenen Kleidern, ſehr ermattet und wolfsartig hungernd weiter, mit dem feſten Vorſatz, die erſte Hütte, die wir finden würden, zu unſerem Nachtlager zu erobern — mit oder ohne Zuſtimmung des Beſitzers — gleichviel. Und ſiehe, das Geſchick war uns günſtig. Es währte nicht lange, ſo tauchte in der Dunkelheit der Nacht der Giebel irgend eines Gebäudes vor uns auf, und um die Ecke deſſelben biegend, leuchteten uns plötzlich zwei helle Fenſter entgegen. Hurrah! Land! Licht! Menſchen! Zu ſolchen Abenteuern kann dem Wanderer im Gebirge der Nebel verhelfen.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/158>, abgerufen am 28.03.2024.