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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Nebelbilder.
emporsteigen; oder wenn die geballten Massen sich sehr tief senken,
begegnets auch, daß das goldene Kreuz eines im Thale liegenden
hohen Kirchthurmes glänzend hervorragt, einsam, symbolisch, über¬
windend. -- Drunten aber in der unsichtbaren verhüllten Tiefe
kreischt und hallt und dröhnt viel lauter und schallender das Ge¬
triebe der Menschen als sonst; denn der Nebel ist ein trefflicher
Resonanzleiter nach Oben, während er in umgekehrtem Verhältniß
dämpft. -- Indessen diese Erscheinung kann man auch in jedem
Berglande finden, sie ist nicht ein bezeichnendes Attribut der Alpen.

Ueberraschender, ungewöhnlicher, ein ächtes Phänomen des
entschiedener gehobenen Gebirgslandes ist jene magische Lufterschei¬
nung, welche im mitteldeutschen Harz unter dem Namen des
"Brockengespenstes" bekannt ist und auf vielen Höhepunkten der
Alpen sich nicht selten zeigt. Sie besteht in der Schattenspiegelung
von Gegenständen und Personen auf der Fläche einer aus der
Tiefe aufsteigenden, freischwebenden Nebelwolke, bei sonst völlig
heiterem Horizont. Am häufigsten begegnet man dieser physikali¬
schen Phantasmagorie auf solchen Höhen, die entweder von Bin¬
nen-Seen oder sumpfigen Thalsohlen umgeben sind, welche bei ent¬
sprechenden atmosphärischen Zuständen leicht Dünste entbinden, die
in Nebelform aufsteigen. Als solche Punkte sind bekannt der
Rigi, der neuester Zeit durch seine bequemen Straßenzugänge und
die Erbauung eines gemüthlichen und eleganten Berggasthofes viel
erstiegene Pilatus, das Brienzer Rothhorn u. A.

Unter außergewöhnlichen Umständen beobachtete der Kantons¬
forst-Inspektor Herr Coaz aus Chur (Bernina-Besteiger) eine solche
Erscheinung auf dem Gipfel des Piz Curver (zwischen dem Scham¬
ser und Oberhalbsteiner Thal in Graubünden). Es hatte Ende
Juni 1843 plötzlich deftig geschneit; der Winter versuchte einen
Ausfall gegen den lachenden Sommer und schlug für wenig Tage
seine weißen Zelte weit und breit über die Gebirgshöhen der Rhä¬
tischen Alpen auf.

Nebelbilder.
emporſteigen; oder wenn die geballten Maſſen ſich ſehr tief ſenken,
begegnets auch, daß das goldene Kreuz eines im Thale liegenden
hohen Kirchthurmes glänzend hervorragt, einſam, ſymboliſch, über¬
windend. — Drunten aber in der unſichtbaren verhüllten Tiefe
kreiſcht und hallt und dröhnt viel lauter und ſchallender das Ge¬
triebe der Menſchen als ſonſt; denn der Nebel iſt ein trefflicher
Reſonanzleiter nach Oben, während er in umgekehrtem Verhältniß
dämpft. — Indeſſen dieſe Erſcheinung kann man auch in jedem
Berglande finden, ſie iſt nicht ein bezeichnendes Attribut der Alpen.

Ueberraſchender, ungewöhnlicher, ein ächtes Phänomen des
entſchiedener gehobenen Gebirgslandes iſt jene magiſche Lufterſchei¬
nung, welche im mitteldeutſchen Harz unter dem Namen des
„Brockengeſpenſtes“ bekannt iſt und auf vielen Höhepunkten der
Alpen ſich nicht ſelten zeigt. Sie beſteht in der Schattenſpiegelung
von Gegenſtänden und Perſonen auf der Fläche einer aus der
Tiefe aufſteigenden, freiſchwebenden Nebelwolke, bei ſonſt völlig
heiterem Horizont. Am häufigſten begegnet man dieſer phyſikali¬
ſchen Phantasmagorie auf ſolchen Höhen, die entweder von Bin¬
nen-Seen oder ſumpfigen Thalſohlen umgeben ſind, welche bei ent¬
ſprechenden atmoſphäriſchen Zuſtänden leicht Dünſte entbinden, die
in Nebelform aufſteigen. Als ſolche Punkte ſind bekannt der
Rigi, der neueſter Zeit durch ſeine bequemen Straßenzugänge und
die Erbauung eines gemüthlichen und eleganten Berggaſthofes viel
erſtiegene Pilatus, das Brienzer Rothhorn u. A.

Unter außergewöhnlichen Umſtänden beobachtete der Kantons¬
forſt-Inſpektor Herr Coaz aus Chur (Bernina-Beſteiger) eine ſolche
Erſcheinung auf dem Gipfel des Piz Curvêr (zwiſchen dem Scham¬
ſer und Oberhalbſteiner Thal in Graubünden). Es hatte Ende
Juni 1843 plötzlich deftig geſchneit; der Winter verſuchte einen
Ausfall gegen den lachenden Sommer und ſchlug für wenig Tage
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[132/0160] Nebelbilder. emporſteigen; oder wenn die geballten Maſſen ſich ſehr tief ſenken, begegnets auch, daß das goldene Kreuz eines im Thale liegenden hohen Kirchthurmes glänzend hervorragt, einſam, ſymboliſch, über¬ windend. — Drunten aber in der unſichtbaren verhüllten Tiefe kreiſcht und hallt und dröhnt viel lauter und ſchallender das Ge¬ triebe der Menſchen als ſonſt; denn der Nebel iſt ein trefflicher Reſonanzleiter nach Oben, während er in umgekehrtem Verhältniß dämpft. — Indeſſen dieſe Erſcheinung kann man auch in jedem Berglande finden, ſie iſt nicht ein bezeichnendes Attribut der Alpen. Ueberraſchender, ungewöhnlicher, ein ächtes Phänomen des entſchiedener gehobenen Gebirgslandes iſt jene magiſche Lufterſchei¬ nung, welche im mitteldeutſchen Harz unter dem Namen des „Brockengeſpenſtes“ bekannt iſt und auf vielen Höhepunkten der Alpen ſich nicht ſelten zeigt. Sie beſteht in der Schattenſpiegelung von Gegenſtänden und Perſonen auf der Fläche einer aus der Tiefe aufſteigenden, freiſchwebenden Nebelwolke, bei ſonſt völlig heiterem Horizont. Am häufigſten begegnet man dieſer phyſikali¬ ſchen Phantasmagorie auf ſolchen Höhen, die entweder von Bin¬ nen-Seen oder ſumpfigen Thalſohlen umgeben ſind, welche bei ent¬ ſprechenden atmoſphäriſchen Zuſtänden leicht Dünſte entbinden, die in Nebelform aufſteigen. Als ſolche Punkte ſind bekannt der Rigi, der neueſter Zeit durch ſeine bequemen Straßenzugänge und die Erbauung eines gemüthlichen und eleganten Berggaſthofes viel erſtiegene Pilatus, das Brienzer Rothhorn u. A. Unter außergewöhnlichen Umſtänden beobachtete der Kantons¬ forſt-Inſpektor Herr Coaz aus Chur (Bernina-Beſteiger) eine ſolche Erſcheinung auf dem Gipfel des Piz Curvêr (zwiſchen dem Scham¬ ſer und Oberhalbſteiner Thal in Graubünden). Es hatte Ende Juni 1843 plötzlich deftig geſchneit; der Winter verſuchte einen Ausfall gegen den lachenden Sommer und ſchlug für wenig Tage ſeine weißen Zelte weit und breit über die Gebirgshöhen der Rhä¬ tiſchen Alpen auf.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/160>, abgerufen am 19.04.2024.