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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Rother Schnee.
die Legel (Fäßchen) geöffnet und von dem ihnen auf Treu und
Glauben anvertrauten Gute sündlich gezecht; dafür seien nun ihre
durstigen Diebesseelen verdammt, an den Firn gebunden, und
müßten, der Nachwelt zur Warnung, so lange hier in Eis und
Kälte schmachten, bis irgend eine mitleidige lebende Seele sie er¬
löse. Die Erlösungsform ist aber eine höchst gemüthliche, an die
antike Ovation erinnernde. Jeder Tropfen des neubelebenden,
muskelspannenden, mutherhöhenden Veltliners ist in der Einöde der
Hochgebirgswelt, wenn die Kräfte schwinden wollen, ein Arkanum
von unbezahlbarem Werth; der besonnene Berggänger geizt mit der
kleinen Neige seiner Feldflasche wie ein Harpagon und spart die¬
selbe für den letzten und äußersten Nothfall vorsichtig auf. An
dieses Kleinod appellirt nun der Volksglaube; wer aus freiem An¬
trieb seinen letzten kostbaren Schluck mit den armen Seelen theilt
und einige Tropfen auf den rothen Schnee ausgießt, der sühnt
die strafende Gerechtigkeit und erlöst die Verdammten aus dem
" kalten Fegefeuer."

Dieses, unter Umständen, schweren Opfers ist der Alpenwan¬
derer unserer Tage, -- Dank den Forschungen der Naturwissen¬
schaften! -- überhoben; die gebannten Geister sind durch den "Höllen¬
zwang" des Mikroskops sammt und sonders erlöst, und der Feuer¬
tropfen muß nicht mehr zur "rettenden That" die Mesalliance mit
dem ertödtend kalten Schnee eingehen.

Ein ganz anderes, ungeahntes Leben, als das stumme Seufzen
und die Marterqual gespenstiger Trunkenbolde, strömt durch diese
Schichten der scheinbar anorganischen Erstarrung; eine Welt des
undenkbar Kleinen wächst und schafft und regenerirt hier. -- Der
geistvolle Horaz Benedict de Saussure war der Erste, der, auf sei¬
nen Chamouny-Reisen 1760, den rothen Schnee untersuchte und
in dem geschmolzenen Wasser rothe Kügelchen fand, die das fär¬
bende Prinzip abgaben. Da sie leblos dalagen, so hielt er, und
nach ihm viele andere Naturforscher, diese Substanzen für Pflanzen¬

Rother Schnee.
die Legel (Fäßchen) geöffnet und von dem ihnen auf Treu und
Glauben anvertrauten Gute ſündlich gezecht; dafür ſeien nun ihre
durſtigen Diebesſeelen verdammt, an den Firn gebunden, und
müßten, der Nachwelt zur Warnung, ſo lange hier in Eis und
Kälte ſchmachten, bis irgend eine mitleidige lebende Seele ſie er¬
löſe. Die Erlöſungsform iſt aber eine höchſt gemüthliche, an die
antike Ovation erinnernde. Jeder Tropfen des neubelebenden,
muskelſpannenden, mutherhöhenden Veltliners iſt in der Einöde der
Hochgebirgswelt, wenn die Kräfte ſchwinden wollen, ein Arkanum
von unbezahlbarem Werth; der beſonnene Berggänger geizt mit der
kleinen Neige ſeiner Feldflaſche wie ein Harpagon und ſpart die¬
ſelbe für den letzten und äußerſten Nothfall vorſichtig auf. An
dieſes Kleinod appellirt nun der Volksglaube; wer aus freiem An¬
trieb ſeinen letzten koſtbaren Schluck mit den armen Seelen theilt
und einige Tropfen auf den rothen Schnee ausgießt, der ſühnt
die ſtrafende Gerechtigkeit und erlöſt die Verdammten aus dem
„ kalten Fegefeuer.“

Dieſes, unter Umſtänden, ſchweren Opfers iſt der Alpenwan¬
derer unſerer Tage, — Dank den Forſchungen der Naturwiſſen¬
ſchaften! — überhoben; die gebannten Geiſter ſind durch den „Höllen¬
zwang“ des Mikroſkops ſammt und ſonders erlöſt, und der Feuer¬
tropfen muß nicht mehr zur „rettenden That“ die Mesalliance mit
dem ertödtend kalten Schnee eingehen.

Ein ganz anderes, ungeahntes Leben, als das ſtumme Seufzen
und die Marterqual geſpenſtiger Trunkenbolde, ſtrömt durch dieſe
Schichten der ſcheinbar anorganiſchen Erſtarrung; eine Welt des
undenkbar Kleinen wächſt und ſchafft und regenerirt hier. — Der
geiſtvolle Horaz Benedict de Sauſſure war der Erſte, der, auf ſei¬
nen Chamouny-Reiſen 1760, den rothen Schnee unterſuchte und
in dem geſchmolzenen Waſſer rothe Kügelchen fand, die das fär¬
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[178/0206] Rother Schnee. die Legel (Fäßchen) geöffnet und von dem ihnen auf Treu und Glauben anvertrauten Gute ſündlich gezecht; dafür ſeien nun ihre durſtigen Diebesſeelen verdammt, an den Firn gebunden, und müßten, der Nachwelt zur Warnung, ſo lange hier in Eis und Kälte ſchmachten, bis irgend eine mitleidige lebende Seele ſie er¬ löſe. Die Erlöſungsform iſt aber eine höchſt gemüthliche, an die antike Ovation erinnernde. Jeder Tropfen des neubelebenden, muskelſpannenden, mutherhöhenden Veltliners iſt in der Einöde der Hochgebirgswelt, wenn die Kräfte ſchwinden wollen, ein Arkanum von unbezahlbarem Werth; der beſonnene Berggänger geizt mit der kleinen Neige ſeiner Feldflaſche wie ein Harpagon und ſpart die¬ ſelbe für den letzten und äußerſten Nothfall vorſichtig auf. An dieſes Kleinod appellirt nun der Volksglaube; wer aus freiem An¬ trieb ſeinen letzten koſtbaren Schluck mit den armen Seelen theilt und einige Tropfen auf den rothen Schnee ausgießt, der ſühnt die ſtrafende Gerechtigkeit und erlöſt die Verdammten aus dem „ kalten Fegefeuer.“ Dieſes, unter Umſtänden, ſchweren Opfers iſt der Alpenwan¬ derer unſerer Tage, — Dank den Forſchungen der Naturwiſſen¬ ſchaften! — überhoben; die gebannten Geiſter ſind durch den „Höllen¬ zwang“ des Mikroſkops ſammt und ſonders erlöſt, und der Feuer¬ tropfen muß nicht mehr zur „rettenden That“ die Mesalliance mit dem ertödtend kalten Schnee eingehen. Ein ganz anderes, ungeahntes Leben, als das ſtumme Seufzen und die Marterqual geſpenſtiger Trunkenbolde, ſtrömt durch dieſe Schichten der ſcheinbar anorganiſchen Erſtarrung; eine Welt des undenkbar Kleinen wächſt und ſchafft und regenerirt hier. — Der geiſtvolle Horaz Benedict de Sauſſure war der Erſte, der, auf ſei¬ nen Chamouny-Reiſen 1760, den rothen Schnee unterſuchte und in dem geſchmolzenen Waſſer rothe Kügelchen fand, die das fär¬ bende Prinzip abgaben. Da ſie leblos dalagen, ſo hielt er, und nach ihm viele andere Naturforſcher, dieſe Subſtanzen für Pflanzen¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/206>, abgerufen am 25.04.2024.