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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Dorfleben im Gebirge.
selben in ihren inneren Verhältnissen und Beziehungen eigentlich
kennen gelernt zu haben; er konstruirt sich unter Zuhilfenahme des
Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantasien, welche in
glücklichen Stunden ihn umranken, und schafft dadurch ein Ding,
welches in Wirklichkeit nicht existirt.

Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umrissen
kennen lernten, ist allenthalben, diesseit und jenseit des Gebirges,
ein ungemein derber, höchst prosaischer Mensch, der sich beim ersten
Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom
Bauer des Flachlandes unterscheiden würde, wenn hinter seiner
Nüchternheit und in seiner Prosa nicht ein weit kernigeres Naturell,
eine gewisse urwüchsige Originalität, man möchte fast sagen ein
klassischer Ernst steckte. Er ist bei Weitem nicht so dressirt und
gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch
ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von diesem ge¬
lernt und aufgenommen haben; aber eben darum ist er auch wahrer,
ursprünglicher und trägt weniger fremdes Wesen in sich als jener.
Es ist die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬
über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchalische
Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präcisere Aus¬
drucksweise, die wiederum ein Resultat der Einwirkungen jener
imposanten, oft furchtbar-erhabenen Natur sind. Sie stählt und
kräftigt nicht nur den Körper, sondern auch den Charakter des
Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme sich häufenden, täglich
neuen Bedürfnissen der großen Welt, genügsam in seinen Lebens-
Ansprüchen ist, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und
Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬
thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.

Diesen ungekünstelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen
wir zunächst und am Unmittelbarsten an dem uns fremden Habitus
der Häuser. Sie sind ein integrirender Theil der uns entzückenden
Landschaft und beleben dieselbe durch ihre, weit über die Matten

Dorfleben im Gebirge.
ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich
kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des
Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in
glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding,
welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt.

Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen
kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges,
ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten
Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom
Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner
Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell,
eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein
klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und
gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch
ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬
lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer,
urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener.
Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬
über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche
Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬
drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener
impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und
kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des
Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich
neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens-
Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und
Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬
thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln.

Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen
wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus
der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden
Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten

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[426/0476] Dorfleben im Gebirge. ſelben in ihren inneren Verhältniſſen und Beziehungen eigentlich kennen gelernt zu haben; er konſtruirt ſich unter Zuhilfenahme des Vorhandenen ein ideales Alpendorf aus den Phantaſien, welche in glücklichen Stunden ihn umranken, und ſchafft dadurch ein Ding, welches in Wirklichkeit nicht exiſtirt. Der Alpenbauer, wie wir ihn bereits in einzelnen Umriſſen kennen lernten, iſt allenthalben, dieſſeit und jenſeit des Gebirges, ein ungemein derber, höchſt proſaiſcher Menſch, der ſich beim erſten Anblick (vielleicht Tracht und Haltung ausgenommen) wenig vom Bauer des Flachlandes unterſcheiden würde, wenn hinter ſeiner Nüchternheit und in ſeiner Proſa nicht ein weit kernigeres Naturell, eine gewiſſe urwüchſige Originalität, man möchte faſt ſagen ein klaſſiſcher Ernſt ſteckte. Er iſt bei Weitem nicht ſo dreſſirt und gehobelt wie ein großer Theil der agrikolen Bauern, die durch ihre fortwährende Beziehung zum Stadtleben viel von dieſem ge¬ lernt und aufgenommen haben; aber eben darum iſt er auch wahrer, urſprünglicher und trägt weniger fremdes Weſen in ſich als jener. Es iſt die Eigenthümlichkeit, die bei jedem Gebirgsvolke, gegen¬ über dem Flachlandsbewohner, heraustritt; das patriarchaliſche Moment, getragen und gehoben durch die kräftigere, präciſere Aus¬ drucksweiſe, die wiederum ein Reſultat der Einwirkungen jener impoſanten, oft furchtbar-erhabenen Natur ſind. Sie ſtählt und kräftigt nicht nur den Körper, ſondern auch den Charakter des Volkes, das unbekannt mit den, im Sturme ſich häufenden, täglich neuen Bedürfniſſen der großen Welt, genügſam in ſeinen Lebens- Anſprüchen iſt, und in einer Altherkömmlichkeit der Sitten und Gebräuche verharrt, die, eben ihrer uns fremd gewordenen Alter¬ thümlichkeit halber, uns auffallen und anheimeln. Dieſen ungekünſtelten, naturgemäßen Lebensformen begegnen wir zunächſt und am Unmittelbarſten an dem uns fremden Habitus der Häuſer. Sie ſind ein integrirender Theil der uns entzückenden Landſchaft und beleben dieſelbe durch ihre, weit über die Matten

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/476>, abgerufen am 18.04.2024.