Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738.

Bild:
<< vorherige Seite

erste halbe Jahr
halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan,
als Tag und Nacht geweinet und geschrien; und
diß auf eine so anhaltende und erbärmliche Weise,
daß meine Eltern nicht davor schlafen können, und
insonderheit die Mutter, so die meiste Mühe mit
mir gehabt, offt bey Tische stehende über dem Ge-
bet einschlafen wollen. Quando infans plorat
nascens, propheta futurae suae calamitatis est,

spricht ein alter Kirchen-Lehrer, wenn ein Kind
auf die Welt kommt und weinet, so ist es
mit seinem Weinen ein Prophet seines zu-
künfftigen Elendes, so es in der Welt wird
ausstehen müssen.
Das ist recht bey mir ein-
getroffen. Denn wenn ich bedencke die vielfälti-
gen Plagen, so ich Zeit meines Lebens im Leibe
und am Gemüthe gehabt: die seltsamen Anfech-
tungen, so über mich kommen: die Seelen-Angst,
in der ich offt gestecket: die Thränen, in welchen
mein gantzes Leben, und insonderheit meine Ju-
gend gleichsam geschwommen: Thränen über Ar-
muth, Thränen wegen Unglück, Thränen wegen
begangener Sünden, Thränen wegen der Strafe
der Sünden, Thränen, daß ich der Sünden nicht
los werden können, Thränen vor Freude, und
Liebe zu GOtt, wenn ich derselben los geworden,
und GOtt mich wiederum getröstet: Thränen
wegen Sehnens und Verlangens, daß mein Jam-
mer, Trübsal und Elend doch endlich zu einem seli-

gen

erſte halbe Jahr
halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan,
als Tag und Nacht geweinet und geſchrien; und
diß auf eine ſo anhaltende und erbaͤrmliche Weiſe,
daß meine Eltern nicht davor ſchlafen koͤnnen, und
inſonderheit die Mutter, ſo die meiſte Muͤhe mit
mir gehabt, offt bey Tiſche ſtehende uͤber dem Ge-
bet einſchlafen wollen. Quando infans plorat
naſcens, propheta futuræ ſuæ calamitatis eſt,

ſpricht ein alter Kirchen-Lehrer, wenn ein Kind
auf die Welt kommt und weinet, ſo iſt es
mit ſeinem Weinen ein Prophet ſeines zu-
kuͤnfftigen Elendes, ſo es in der Welt wird
ausſtehen muͤſſen.
Das iſt recht bey mir ein-
getroffen. Denn wenn ich bedencke die vielfaͤlti-
gen Plagen, ſo ich Zeit meines Lebens im Leibe
und am Gemuͤthe gehabt: die ſeltſamen Anfech-
tungen, ſo uͤber mich kommen: die Seelen-Angſt,
in der ich offt geſtecket: die Thraͤnen, in welchen
mein gantzes Leben, und inſonderheit meine Ju-
gend gleichſam geſchwommen: Thraͤnen uͤber Ar-
muth, Thraͤnen wegen Ungluͤck, Thraͤnen wegen
begangener Suͤnden, Thraͤnen wegen der Strafe
der Suͤnden, Thraͤnen, daß ich der Suͤnden nicht
los werden koͤnnen, Thraͤnen vor Freude, und
Liebe zu GOtt, wenn ich derſelben los geworden,
und GOtt mich wiederum getroͤſtet: Thraͤnen
wegen Sehnens und Verlangens, daß mein Jam-
mer, Truͤbſal und Elend doch endlich zu einem ſeli-

gen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0060" n="14"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">er&#x017F;te halbe Jahr</hi></fw><lb/>
halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan,<lb/>
als Tag und Nacht geweinet und ge&#x017F;chrien; und<lb/>
diß auf eine &#x017F;o anhaltende und erba&#x0364;rmliche Wei&#x017F;e,<lb/>
daß meine Eltern nicht davor &#x017F;chlafen ko&#x0364;nnen, und<lb/>
in&#x017F;onderheit die Mutter, &#x017F;o die mei&#x017F;te Mu&#x0364;he mit<lb/>
mir gehabt, offt bey Ti&#x017F;che &#x017F;tehende u&#x0364;ber dem Ge-<lb/>
bet ein&#x017F;chlafen wollen. <hi rendition="#aq">Quando infans plorat<lb/>
na&#x017F;cens, propheta futuræ &#x017F;uæ calamitatis e&#x017F;t,</hi><lb/>
&#x017F;pricht ein alter Kirchen-Lehrer, <hi rendition="#fr">wenn ein Kind<lb/>
auf die Welt kommt und weinet, &#x017F;o i&#x017F;t es<lb/>
mit &#x017F;einem Weinen ein Prophet &#x017F;eines zu-<lb/>
ku&#x0364;nfftigen Elendes, &#x017F;o es in der Welt wird<lb/>
aus&#x017F;tehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</hi> Das i&#x017F;t recht bey mir ein-<lb/>
getroffen. Denn wenn ich bedencke die vielfa&#x0364;lti-<lb/>
gen Plagen, &#x017F;o ich Zeit meines Lebens im Leibe<lb/>
und am Gemu&#x0364;the gehabt: die &#x017F;elt&#x017F;amen Anfech-<lb/>
tungen, &#x017F;o u&#x0364;ber mich kommen: die Seelen-Ang&#x017F;t,<lb/>
in der ich offt ge&#x017F;tecket: die Thra&#x0364;nen, in welchen<lb/>
mein gantzes Leben, und in&#x017F;onderheit meine Ju-<lb/>
gend gleich&#x017F;am ge&#x017F;chwommen: Thra&#x0364;nen u&#x0364;ber Ar-<lb/>
muth, Thra&#x0364;nen wegen Unglu&#x0364;ck, Thra&#x0364;nen wegen<lb/>
begangener Su&#x0364;nden, Thra&#x0364;nen wegen der Strafe<lb/>
der Su&#x0364;nden, Thra&#x0364;nen, daß ich der Su&#x0364;nden nicht<lb/>
los werden ko&#x0364;nnen, Thra&#x0364;nen vor Freude, und<lb/>
Liebe zu GOtt, wenn ich der&#x017F;elben los geworden,<lb/>
und GOtt mich wiederum getro&#x0364;&#x017F;tet: Thra&#x0364;nen<lb/>
wegen Sehnens und Verlangens, daß mein Jam-<lb/>
mer, Tru&#x0364;b&#x017F;al und Elend doch endlich zu einem &#x017F;eli-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0060] erſte halbe Jahr halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan, als Tag und Nacht geweinet und geſchrien; und diß auf eine ſo anhaltende und erbaͤrmliche Weiſe, daß meine Eltern nicht davor ſchlafen koͤnnen, und inſonderheit die Mutter, ſo die meiſte Muͤhe mit mir gehabt, offt bey Tiſche ſtehende uͤber dem Ge- bet einſchlafen wollen. Quando infans plorat naſcens, propheta futuræ ſuæ calamitatis eſt, ſpricht ein alter Kirchen-Lehrer, wenn ein Kind auf die Welt kommt und weinet, ſo iſt es mit ſeinem Weinen ein Prophet ſeines zu- kuͤnfftigen Elendes, ſo es in der Welt wird ausſtehen muͤſſen. Das iſt recht bey mir ein- getroffen. Denn wenn ich bedencke die vielfaͤlti- gen Plagen, ſo ich Zeit meines Lebens im Leibe und am Gemuͤthe gehabt: die ſeltſamen Anfech- tungen, ſo uͤber mich kommen: die Seelen-Angſt, in der ich offt geſtecket: die Thraͤnen, in welchen mein gantzes Leben, und inſonderheit meine Ju- gend gleichſam geſchwommen: Thraͤnen uͤber Ar- muth, Thraͤnen wegen Ungluͤck, Thraͤnen wegen begangener Suͤnden, Thraͤnen wegen der Strafe der Suͤnden, Thraͤnen, daß ich der Suͤnden nicht los werden koͤnnen, Thraͤnen vor Freude, und Liebe zu GOtt, wenn ich derſelben los geworden, und GOtt mich wiederum getroͤſtet: Thraͤnen wegen Sehnens und Verlangens, daß mein Jam- mer, Truͤbſal und Elend doch endlich zu einem ſeli- gen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/60
Zitationshilfe: Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/60>, abgerufen am 25.04.2024.