Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 183. Aussetzung hülfloser Personen.
delt von der Aussetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das
Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die
Aussetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zusammenhang zeigt,
des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift.
Das Strafgesetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Gesetz-
gebungen den Thatbestand des Verbrechens sehr weit genommen.

I. Das Verbrechen wird begangen durch "Aussetzen" oder "vor-
sätzliches Verlassen in hülfloser Lage." Ersteres bezeichnet ein in be-
stimmter Absicht vorgenommenes, vorsätzliches Handeln; es ist ein tech-
nischer Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder
doch noch ganz hülflose Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An-
wendung auf Kinder unter sieben Jahren und andere wegen Krankheit
oder Gebrechlichkeit hülflose Personen ist nach dem Vorgange anderer
Deutscher Gesetzgebungen geschehen. w) Doch hielt man so sehr an die-
ser Erweiterung des Thatbestandes fest, daß selbst der Vorschlag, wie
bei dem vorsätzlichen Verlassen nur für den Fall eine Strafbestimmung
aufzustellen, wenn die ausgesetzte Person sich unter der Obhut des Thä-
ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Interesse
bei der That haben und dieselbe aus Haß und Bosheit begangen wer-
den könnte. x)

II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen ist, daß die Aus-
setzung wie das Verlassen in hülfloser Lage besonders deswegen mit
Strafe bedroht ist, weil Leben oder Gesundheit eines Menschen dadurch
gefährdet wird, so ist dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor-
schrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der
Eigennutz, der sich in einer solchen Handlung aussprechen kann, sind
Momente, die auch zu berücksichtigen, und die von der Gesetzgebung be-
stimmt ins Auge gefaßt sind. Man erkennt dieß aus den Strafvor-
schriften und Zumessungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des
von 1843. Hier heißt es:

§. 317. "Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge-
brechlichkeit hülflose Person an einen solchen Ort oder unter solchen
Umständen aussetzt, daß die Lebensrettung des Ausgesetzten mit Wahr-
scheinlichkeit nicht erwartet werden kann, soll, wenn das Verbrechen in
der Absicht zu tödten verübt worden ist, mit den Strafen des vollbrach-
ten oder versuchten Mordes belegt werden.


w) Motive zum ersten Entwurf. III. 2. S. 213-16. -- Der Code
penal
(Art. 149-53.) handelt nur von der Aussetzung von Kindern unter sieben
Jahren.
x) Revision von 1845. II. S. 130. -- Verhandlungen der Staats-
raths-Kommission von
1846. S. 117. 118. -- Fernere Verhandlungen
von
1847. S. 43.
Beseler Kommentar. 24

§. 183. Ausſetzung hülfloſer Perſonen.
delt von der Ausſetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das
Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die
Ausſetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zuſammenhang zeigt,
des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift.
Das Strafgeſetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Geſetz-
gebungen den Thatbeſtand des Verbrechens ſehr weit genommen.

I. Das Verbrechen wird begangen durch „Ausſetzen“ oder „vor-
ſätzliches Verlaſſen in hülfloſer Lage.“ Erſteres bezeichnet ein in be-
ſtimmter Abſicht vorgenommenes, vorſätzliches Handeln; es iſt ein tech-
niſcher Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder
doch noch ganz hülfloſe Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An-
wendung auf Kinder unter ſieben Jahren und andere wegen Krankheit
oder Gebrechlichkeit hülfloſe Perſonen iſt nach dem Vorgange anderer
Deutſcher Geſetzgebungen geſchehen. w) Doch hielt man ſo ſehr an die-
ſer Erweiterung des Thatbeſtandes feſt, daß ſelbſt der Vorſchlag, wie
bei dem vorſätzlichen Verlaſſen nur für den Fall eine Strafbeſtimmung
aufzuſtellen, wenn die ausgeſetzte Perſon ſich unter der Obhut des Thä-
ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Intereſſe
bei der That haben und dieſelbe aus Haß und Bosheit begangen wer-
den könnte. x)

II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen iſt, daß die Aus-
ſetzung wie das Verlaſſen in hülfloſer Lage beſonders deswegen mit
Strafe bedroht iſt, weil Leben oder Geſundheit eines Menſchen dadurch
gefährdet wird, ſo iſt dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor-
ſchrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der
Eigennutz, der ſich in einer ſolchen Handlung ausſprechen kann, ſind
Momente, die auch zu berückſichtigen, und die von der Geſetzgebung be-
ſtimmt ins Auge gefaßt ſind. Man erkennt dieß aus den Strafvor-
ſchriften und Zumeſſungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des
von 1843. Hier heißt es:

§. 317. „Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge-
brechlichkeit hülfloſe Perſon an einen ſolchen Ort oder unter ſolchen
Umſtänden ausſetzt, daß die Lebensrettung des Ausgeſetzten mit Wahr-
ſcheinlichkeit nicht erwartet werden kann, ſoll, wenn das Verbrechen in
der Abſicht zu tödten verübt worden iſt, mit den Strafen des vollbrach-
ten oder verſuchten Mordes belegt werden.


w) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 213-16. — Der Code
pénal
(Art. 149-53.) handelt nur von der Ausſetzung von Kindern unter ſieben
Jahren.
x) Reviſion von 1845. II. S. 130. — Verhandlungen der Staats-
raths-Kommiſſion von
1846. S. 117. 118. — Fernere Verhandlungen
von
1847. S. 43.
Beſeler Kommentar. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0371" n="361"/><fw place="top" type="header">§. 183. Aus&#x017F;etzung hülflo&#x017F;er           Per&#x017F;onen.</fw><lb/>
delt von der Aus&#x017F;etzung der Kinder beim          Kindesmord, und faßt das<lb/>
Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur          die<lb/>
Aus&#x017F;etzung durch die Mutter und zwar, wie der Zu&#x017F;ammenhang          zeigt,<lb/>
des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift.<lb/>
Das          Strafge&#x017F;etzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer          Ge&#x017F;etz-<lb/>
gebungen den Thatbe&#x017F;tand des Verbrechens &#x017F;ehr          weit genommen.</p><lb/>
                <p>I. Das Verbrechen wird begangen durch &#x201E;Aus&#x017F;etzen&#x201C; oder          &#x201E;vor-<lb/>
&#x017F;ätzliches Verla&#x017F;&#x017F;en in          hülflo&#x017F;er Lage.&#x201C; Er&#x017F;teres bezeichnet ein in          be-<lb/>
&#x017F;timmter Ab&#x017F;icht vorgenommenes, vor&#x017F;ätzliches          Handeln; es i&#x017F;t ein tech-<lb/>
ni&#x017F;cher Ausdruck, der allerdings nur in          Beziehung auf neugeborene oder<lb/>
doch noch ganz hülflo&#x017F;e Kinder gebraucht zu          werden pflegt. Die An-<lb/>
wendung auf Kinder unter &#x017F;ieben Jahren und andere          wegen Krankheit<lb/>
oder Gebrechlichkeit hülflo&#x017F;e Per&#x017F;onen          i&#x017F;t nach dem Vorgange anderer<lb/>
Deut&#x017F;cher Ge&#x017F;etzgebungen          ge&#x017F;chehen. <note place="foot" n="w)"><hi rendition="#g">Motive zum            er&#x017F;ten Entwurf.</hi> III. 2. S. 213-16. &#x2014; Der <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Code<lb/>
pénal</hi></hi> (<hi rendition="#aq">Art.</hi> 149-53.) handelt nur von der Aus&#x017F;etzung           von Kindern unter &#x017F;ieben<lb/>
Jahren.</note> Doch hielt man &#x017F;o          &#x017F;ehr an die-<lb/>
&#x017F;er Erweiterung des Thatbe&#x017F;tandes          fe&#x017F;t, daß &#x017F;elb&#x017F;t der Vor&#x017F;chlag, wie<lb/>
bei dem          vor&#x017F;ätzlichen Verla&#x017F;&#x017F;en nur für den Fall eine          Strafbe&#x017F;timmung<lb/>
aufzu&#x017F;tellen, wenn die ausge&#x017F;etzte          Per&#x017F;on &#x017F;ich unter der Obhut des Thä-<lb/>
ters befinde, abgelehnt          wurde, weil doch ein Anderer auch ein Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
bei der That          haben und die&#x017F;elbe aus Haß und Bosheit begangen wer-<lb/>
den könnte. <note place="foot" n="x)"><hi rendition="#g">Revi&#x017F;ion von</hi> 1845. II. S. 130.           &#x2014; <hi rendition="#g">Verhandlungen der Staats-<lb/>
raths-Kommi&#x017F;&#x017F;ion von</hi> 1846. S. 117. 118. &#x2014; <hi rendition="#g">Fernere Verhandlungen<lb/>
von</hi> 1847. S. 43.</note>         </p><lb/>
                <p>II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen i&#x017F;t, daß die          Aus-<lb/>
&#x017F;etzung wie das Verla&#x017F;&#x017F;en in hülflo&#x017F;er          Lage be&#x017F;onders deswegen mit<lb/>
Strafe bedroht i&#x017F;t, weil Leben oder          Ge&#x017F;undheit eines Men&#x017F;chen dadurch<lb/>
gefährdet wird, &#x017F;o          i&#x017F;t dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor-<lb/>
&#x017F;chrift. Die          Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der<lb/>
Eigennutz, der &#x017F;ich          in einer &#x017F;olchen Handlung aus&#x017F;prechen kann,          &#x017F;ind<lb/>
Momente, die auch zu berück&#x017F;ichtigen, und die von der          Ge&#x017F;etzgebung be-<lb/>
&#x017F;timmt ins Auge gefaßt &#x017F;ind. Man          erkennt dieß aus den Strafvor-<lb/>
&#x017F;chriften und          Zume&#x017F;&#x017F;ungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des<lb/>
von 1843.          Hier heißt es:</p><lb/>
                <p>§. 317. &#x201E;Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder          Ge-<lb/>
brechlichkeit hülflo&#x017F;e Per&#x017F;on an einen &#x017F;olchen Ort          oder unter &#x017F;olchen<lb/>
Um&#x017F;tänden aus&#x017F;etzt, daß die          Lebensrettung des Ausge&#x017F;etzten mit Wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlichkeit nicht          erwartet werden kann, &#x017F;oll, wenn das Verbrechen in<lb/>
der Ab&#x017F;icht zu          tödten verübt worden i&#x017F;t, mit den Strafen des vollbrach-<lb/>
ten oder          ver&#x017F;uchten Mordes belegt werden.</p><lb/>
                <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Be&#x017F;eler</hi> Kommentar. 24</fw><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[361/0371] §. 183. Ausſetzung hülfloſer Perſonen. delt von der Ausſetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die Ausſetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zuſammenhang zeigt, des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift. Das Strafgeſetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Geſetz- gebungen den Thatbeſtand des Verbrechens ſehr weit genommen. I. Das Verbrechen wird begangen durch „Ausſetzen“ oder „vor- ſätzliches Verlaſſen in hülfloſer Lage.“ Erſteres bezeichnet ein in be- ſtimmter Abſicht vorgenommenes, vorſätzliches Handeln; es iſt ein tech- niſcher Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder doch noch ganz hülfloſe Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An- wendung auf Kinder unter ſieben Jahren und andere wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit hülfloſe Perſonen iſt nach dem Vorgange anderer Deutſcher Geſetzgebungen geſchehen. w) Doch hielt man ſo ſehr an die- ſer Erweiterung des Thatbeſtandes feſt, daß ſelbſt der Vorſchlag, wie bei dem vorſätzlichen Verlaſſen nur für den Fall eine Strafbeſtimmung aufzuſtellen, wenn die ausgeſetzte Perſon ſich unter der Obhut des Thä- ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Intereſſe bei der That haben und dieſelbe aus Haß und Bosheit begangen wer- den könnte. x) II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen iſt, daß die Aus- ſetzung wie das Verlaſſen in hülfloſer Lage beſonders deswegen mit Strafe bedroht iſt, weil Leben oder Geſundheit eines Menſchen dadurch gefährdet wird, ſo iſt dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor- ſchrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der Eigennutz, der ſich in einer ſolchen Handlung ausſprechen kann, ſind Momente, die auch zu berückſichtigen, und die von der Geſetzgebung be- ſtimmt ins Auge gefaßt ſind. Man erkennt dieß aus den Strafvor- ſchriften und Zumeſſungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des von 1843. Hier heißt es: §. 317. „Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge- brechlichkeit hülfloſe Perſon an einen ſolchen Ort oder unter ſolchen Umſtänden ausſetzt, daß die Lebensrettung des Ausgeſetzten mit Wahr- ſcheinlichkeit nicht erwartet werden kann, ſoll, wenn das Verbrechen in der Abſicht zu tödten verübt worden iſt, mit den Strafen des vollbrach- ten oder verſuchten Mordes belegt werden. w) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 213-16. — Der Code pénal (Art. 149-53.) handelt nur von der Ausſetzung von Kindern unter ſieben Jahren. x) Reviſion von 1845. II. S. 130. — Verhandlungen der Staats- raths-Kommiſſion von 1846. S. 117. 118. — Fernere Verhandlungen von 1847. S. 43. Beſeler Kommentar. 24

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/371
Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/371>, abgerufen am 25.04.2024.