Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
Könige selbst habe constatiren können, haben die Sympathien der
höhern Beamtenschichten theils für die liberale, theils für die natio¬
nale Seite der Bewegung viel beigetragen -- ein Element, das
ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht thatsächlich
entscheidend in's Gewicht fallen konnte.

Gegenüber der Versuchung, die in der Situation lag, hatte
der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen
möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens,
ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten stürmischen Tage den
ersten Schritt in das Wasser thun wollte. Seine Bedenken, ob die
Dinge reif seien, wurden unter anderm genährt durch die ge¬
schichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur
über das sächsische und hanöversche Gesandschaftsrecht, sondern
auch über die Vertheilung der Sitze im "Reichstage" zwischen Regi¬
renden und Mediatisirten, zwischen Landesherrn und Personalisten,
recipirten und nicht recipirten Grafen unter den verschiedenen
Kategorien der Reichstagsmasse, wobei die Specialität des Freien
Standesherrn von Grote-Schauen zu untersuchen war.

II.

Den militärischen Vorgängen stand ich damals weniger nahe
als später, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für
die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufstände in der
Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden
als rathsam und als erforderlich gewesen wäre, wenn man feld¬
mäßig mobile Truppen hätte marschiren lassen. Thatsache ist,
daß mir der Kriegsminister zur Zeit der Olmützer Begegnung als
einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufschub
des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee
rechtzeitig oder überhaupt zu mobilisiren, dessen Stämme sich in
Baden oder sonst außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs¬

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
Könige ſelbſt habe conſtatiren können, haben die Sympathien der
höhern Beamtenſchichten theils für die liberale, theils für die natio¬
nale Seite der Bewegung viel beigetragen — ein Element, das
ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht thatſächlich
entſcheidend in's Gewicht fallen konnte.

Gegenüber der Verſuchung, die in der Situation lag, hatte
der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen
möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens,
ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten ſtürmiſchen Tage den
erſten Schritt in das Waſſer thun wollte. Seine Bedenken, ob die
Dinge reif ſeien, wurden unter anderm genährt durch die ge¬
ſchichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur
über das ſächſiſche und hanöverſche Geſandſchaftsrecht, ſondern
auch über die Vertheilung der Sitze im „Reichstage“ zwiſchen Regi¬
renden und Mediatiſirten, zwiſchen Landesherrn und Perſonaliſten,
recipirten und nicht recipirten Grafen unter den verſchiedenen
Kategorien der Reichstagsmaſſe, wobei die Specialität des Freien
Standesherrn von Grote-Schauen zu unterſuchen war.

II.

Den militäriſchen Vorgängen ſtand ich damals weniger nahe
als ſpäter, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für
die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufſtände in der
Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden
als rathſam und als erforderlich geweſen wäre, wenn man feld¬
mäßig mobile Truppen hätte marſchiren laſſen. Thatſache iſt,
daß mir der Kriegsminiſter zur Zeit der Olmützer Begegnung als
einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufſchub
des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee
rechtzeitig oder überhaupt zu mobiliſiren, deſſen Stämme ſich in
Baden oder ſonſt außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0089" n="62"/><fw place="top" type="header">Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.<lb/></fw> Könige &#x017F;elb&#x017F;t habe con&#x017F;tatiren können, haben die Sympathien der<lb/>
höhern Beamten&#x017F;chichten theils für die liberale, theils für die natio¬<lb/>
nale Seite der Bewegung viel beigetragen &#x2014; ein Element, das<lb/>
ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht that&#x017F;ächlich<lb/>
ent&#x017F;cheidend in's Gewicht fallen konnte.</p><lb/>
          <p>Gegenüber der Ver&#x017F;uchung, die in der Situation lag, hatte<lb/>
der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen<lb/>
möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens,<lb/>
ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten &#x017F;türmi&#x017F;chen Tage den<lb/>
er&#x017F;ten Schritt in das Wa&#x017F;&#x017F;er thun wollte. Seine Bedenken, ob die<lb/>
Dinge reif &#x017F;eien, wurden unter anderm genährt durch die ge¬<lb/>
&#x017F;chichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur<lb/>
über das &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;che und hanöver&#x017F;che Ge&#x017F;and&#x017F;chaftsrecht, &#x017F;ondern<lb/>
auch über die Vertheilung der Sitze im &#x201E;Reichstage&#x201C; zwi&#x017F;chen Regi¬<lb/>
renden und Mediati&#x017F;irten, zwi&#x017F;chen Landesherrn und Per&#x017F;onali&#x017F;ten,<lb/>
recipirten und nicht recipirten Grafen unter den ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Kategorien der Reichstagsma&#x017F;&#x017F;e, wobei die Specialität des Freien<lb/>
Standesherrn von Grote-Schauen zu unter&#x017F;uchen war.</p><lb/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#aq">II.</hi><lb/>
          </head>
          <p>Den militäri&#x017F;chen Vorgängen &#x017F;tand ich damals weniger nahe<lb/>
als &#x017F;päter, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für<lb/>
die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Auf&#x017F;tände in der<lb/>
Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden<lb/>
als rath&#x017F;am und als erforderlich gewe&#x017F;en wäre, wenn man feld¬<lb/>
mäßig mobile Truppen hätte mar&#x017F;chiren la&#x017F;&#x017F;en. That&#x017F;ache i&#x017F;t,<lb/>
daß mir der Kriegsmini&#x017F;ter zur Zeit der Olmützer Begegnung als<lb/>
einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Auf&#x017F;chub<lb/>
des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee<lb/>
rechtzeitig oder überhaupt zu mobili&#x017F;iren, de&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#g">Stämme</hi> &#x017F;ich in<lb/>
Baden oder &#x017F;on&#x017F;t außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0089] Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden. Könige ſelbſt habe conſtatiren können, haben die Sympathien der höhern Beamtenſchichten theils für die liberale, theils für die natio¬ nale Seite der Bewegung viel beigetragen — ein Element, das ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht thatſächlich entſcheidend in's Gewicht fallen konnte. Gegenüber der Verſuchung, die in der Situation lag, hatte der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens, ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten ſtürmiſchen Tage den erſten Schritt in das Waſſer thun wollte. Seine Bedenken, ob die Dinge reif ſeien, wurden unter anderm genährt durch die ge¬ ſchichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur über das ſächſiſche und hanöverſche Geſandſchaftsrecht, ſondern auch über die Vertheilung der Sitze im „Reichstage“ zwiſchen Regi¬ renden und Mediatiſirten, zwiſchen Landesherrn und Perſonaliſten, recipirten und nicht recipirten Grafen unter den verſchiedenen Kategorien der Reichstagsmaſſe, wobei die Specialität des Freien Standesherrn von Grote-Schauen zu unterſuchen war. II. Den militäriſchen Vorgängen ſtand ich damals weniger nahe als ſpäter, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufſtände in der Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden als rathſam und als erforderlich geweſen wäre, wenn man feld¬ mäßig mobile Truppen hätte marſchiren laſſen. Thatſache iſt, daß mir der Kriegsminiſter zur Zeit der Olmützer Begegnung als einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufſchub des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee rechtzeitig oder überhaupt zu mobiliſiren, deſſen Stämme ſich in Baden oder ſonſt außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/89
Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/89>, abgerufen am 28.03.2024.