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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Aufgaben einer vorschauenden Politik Deutschlands.
Eine Coalition wie im siebenjährigen Kriege gegen Preußen von
Rußland, Oestreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit
andern dynastischen Unzufriedenheiten, ist für unsre Existenz ebenso
gefährlich und für unsern Wohlstand, wenn sie siegt, noch er¬
drückender als die damalige. Es ist unvernünftig und ruchlos, die
Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland gestattet, aus per¬
sönlicher Verstimmung abzubrechen.

Wir müssen und können der östreichisch-ungarischen Mon¬
archie das Bündniß ehrlich halten; es entspricht unsern Interessen,
den historischen Traditionen Deutschlands und der öffentlichen Mei¬
nung unsres Volkes. Die Eindrücke und Kräfte, unter denen
die Zukunft der Wiener Politik sich zu gestalten haben wird, sind
jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der
Nationalitäten, der Divergenz ihrer Bestrebungen, der clericalen
Einflüsse und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen
Meeres für die Donauländer liegenden Versuchungen. Wir dürfen
Oestreich nicht verlassen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von
der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlassen werden,
nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in
solchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutschen Politik,
wenn sie ihre Pflicht thun will, sich klar machen und gegenwärtig
halten, bevor sie eintreten, und sie dürfen nicht von Vorliebe oder
Verstimmung abhängen, sondern nur von objectiver Erwägung der
nationalen Interessen.

VIII.

Ich habe mich stets bemüht, nicht nur die Sicherstellung gegen
russische Angriffe, sondern auch die Beruhigung der russischen Stim¬
mung und den Glauben an den inoffensiven Charakter unsrer
Politik zu pflegen. Es ist mir auch bis zu meinem Ausscheiden
aus dem Amte vermöge des persönlichen Vertrauens, das Kaiser
Alexander III. mir schenkte, stets gelungen, dem Mißtrauen die

Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 17

Aufgaben einer vorſchauenden Politik Deutſchlands.
Eine Coalition wie im ſiebenjährigen Kriege gegen Preußen von
Rußland, Oeſtreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit
andern dynaſtiſchen Unzufriedenheiten, iſt für unſre Exiſtenz ebenſo
gefährlich und für unſern Wohlſtand, wenn ſie ſiegt, noch er¬
drückender als die damalige. Es iſt unvernünftig und ruchlos, die
Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland geſtattet, aus per¬
ſönlicher Verſtimmung abzubrechen.

Wir müſſen und können der öſtreichiſch-ungariſchen Mon¬
archie das Bündniß ehrlich halten; es entſpricht unſern Intereſſen,
den hiſtoriſchen Traditionen Deutſchlands und der öffentlichen Mei¬
nung unſres Volkes. Die Eindrücke und Kräfte, unter denen
die Zukunft der Wiener Politik ſich zu geſtalten haben wird, ſind
jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der
Nationalitäten, der Divergenz ihrer Beſtrebungen, der clericalen
Einflüſſe und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen
Meeres für die Donauländer liegenden Verſuchungen. Wir dürfen
Oeſtreich nicht verlaſſen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von
der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlaſſen werden,
nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in
ſolchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutſchen Politik,
wenn ſie ihre Pflicht thun will, ſich klar machen und gegenwärtig
halten, bevor ſie eintreten, und ſie dürfen nicht von Vorliebe oder
Verſtimmung abhängen, ſondern nur von objectiver Erwägung der
nationalen Intereſſen.

VIII.

Ich habe mich ſtets bemüht, nicht nur die Sicherſtellung gegen
ruſſiſche Angriffe, ſondern auch die Beruhigung der ruſſiſchen Stim¬
mung und den Glauben an den inoffenſiven Charakter unſrer
Politik zu pflegen. Es iſt mir auch bis zu meinem Ausſcheiden
aus dem Amte vermöge des perſönlichen Vertrauens, das Kaiſer
Alexander III. mir ſchenkte, ſtets gelungen, dem Mißtrauen die

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 17
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[257/0281] Aufgaben einer vorſchauenden Politik Deutſchlands. Eine Coalition wie im ſiebenjährigen Kriege gegen Preußen von Rußland, Oeſtreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit andern dynaſtiſchen Unzufriedenheiten, iſt für unſre Exiſtenz ebenſo gefährlich und für unſern Wohlſtand, wenn ſie ſiegt, noch er¬ drückender als die damalige. Es iſt unvernünftig und ruchlos, die Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland geſtattet, aus per¬ ſönlicher Verſtimmung abzubrechen. Wir müſſen und können der öſtreichiſch-ungariſchen Mon¬ archie das Bündniß ehrlich halten; es entſpricht unſern Intereſſen, den hiſtoriſchen Traditionen Deutſchlands und der öffentlichen Mei¬ nung unſres Volkes. Die Eindrücke und Kräfte, unter denen die Zukunft der Wiener Politik ſich zu geſtalten haben wird, ſind jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der Nationalitäten, der Divergenz ihrer Beſtrebungen, der clericalen Einflüſſe und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen Meeres für die Donauländer liegenden Verſuchungen. Wir dürfen Oeſtreich nicht verlaſſen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlaſſen werden, nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in ſolchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutſchen Politik, wenn ſie ihre Pflicht thun will, ſich klar machen und gegenwärtig halten, bevor ſie eintreten, und ſie dürfen nicht von Vorliebe oder Verſtimmung abhängen, ſondern nur von objectiver Erwägung der nationalen Intereſſen. VIII. Ich habe mich ſtets bemüht, nicht nur die Sicherſtellung gegen ruſſiſche Angriffe, ſondern auch die Beruhigung der ruſſiſchen Stim¬ mung und den Glauben an den inoffenſiven Charakter unſrer Politik zu pflegen. Es iſt mir auch bis zu meinem Ausſcheiden aus dem Amte vermöge des perſönlichen Vertrauens, das Kaiſer Alexander III. mir ſchenkte, ſtets gelungen, dem Mißtrauen die Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 17

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/281>, abgerufen am 18.04.2024.