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Blumenbach, Johann Friedrich: Handbuch der Naturgeschichte. 12. Aufl. Wien, 1832.

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in einer bestimmten Reihe von Lebensjahren; und dann einen
besondern Theil an den Sexual-Organen, dessen Mangel
oder Zerstörung als ein körperliches Kennzeichen der ver-
letzten jungfräulichen Integrität anzusehen, und in der
Form und Lage bei andern weiblichen Thieren nicht gefun-
den ist.

Was aber die Seelenfähigkeiten des Menschen betrifft, so
hat er außer dem Begattungstriebe wenig Spuren von In-
stinct
(§. 34. u. f.), Kunsttriebe aber (§. 36.) schlechter-
dings gar nicht. Dagegen ist er ausschließlich im Besitz
der Vernunft (§. 37.), und der dadurch von ihm selbst
erfundenen Rede oder Sprache (loquela), die nicht mit
der bloß thierischen Stimme (vox) verwechselt werden darf
(§. 25.), als welche auch den ganz jungen und selbst den
stummgebornen Kindern zukommt. Und so folgt aus jenen
beiden ausschließlichen Vorzügen das große ausschließliche Ei-
genthum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze übri-
ge thierische Schöpfung erhoben wird, das Vermögen
sich selbst zu vervollkommnen
(§. 37.)



Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbedürfti-
ges
Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm bleibt so lan-
ge Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein Gebiß, lernt so
sehr spät erst auf seinen Füßen stehen, keins wird so sehr spät
mannbar u. s. w. Selbst eine großen Vorzüge, Vernunft
und Sprache, sind nur Keime, die sich nicht von selbst, son-
dern erst durch fremde Hülfe, Cultur und Erziehung entwi-
ckeln können; daher denn bei dieser Hülfsbedürftigkeit und
bei diesen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine na-
türliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaftlichen
Verbindung. -
Nicht ganz so allgemein läßt sich hinge-
gen vor der Hand noch entscheiden, ob in allen Welttheilen
die Proportion in der Anzahl der gebornen Knäbchen und
Mädchen, und die Dauer der Zeit und der Fortpflanzungsfähig-
keit bei beiden Geschlechtern so gleich sei, daß der Mensch über-
all so wie in Europa zur Monogamie bestimmt
werde*).

Sein Aufenthalt und seine Nahrung sind beide un-
beschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Erde, und nährt
sich mit den vielartigsten Stoffen aus dem weitesten Umfang

*) Doch vergl. auch Hrn. Staatsrath Hufeland über die
Gleichzahl beider Geschlechter im Menschengeschlecht. Berl. 1820. 8.

in einer bestimmten Reihe von Lebensjahren; und dann einen
besondern Theil an den Sexual-Organen, dessen Mangel
oder Zerstörung als ein körperliches Kennzeichen der ver-
letzten jungfräulichen Integrität anzusehen, und in der
Form und Lage bei andern weiblichen Thieren nicht gefun-
den ist.

Was aber die Seelenfähigkeiten des Menschen betrifft, so
hat er außer dem Begattungstriebe wenig Spuren von In-
stinct
(§. 34. u. f.), Kunsttriebe aber (§. 36.) schlechter-
dings gar nicht. Dagegen ist er ausschließlich im Besitz
der Vernunft (§. 37.), und der dadurch von ihm selbst
erfundenen Rede oder Sprache (loquela), die nicht mit
der bloß thierischen Stimme (vox) verwechselt werden darf
(§. 25.), als welche auch den ganz jungen und selbst den
stummgebornen Kindern zukommt. Und so folgt aus jenen
beiden ausschließlichen Vorzügen das große ausschließliche Ei-
genthum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze übri-
ge thierische Schöpfung erhoben wird, das Vermögen
sich selbst zu vervollkommnen
(§. 37.)



Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbedürfti-
ges
Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm bleibt so lan-
ge Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein Gebiß, lernt so
sehr spät erst auf seinen Füßen stehen, keins wird so sehr spät
mannbar u. s. w. Selbst eine großen Vorzüge, Vernunft
und Sprache, sind nur Keime, die sich nicht von selbst, son-
dern erst durch fremde Hülfe, Cultur und Erziehung entwi-
ckeln können; daher denn bei dieser Hülfsbedürftigkeit und
bei diesen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine na-
türliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaftlichen
Verbindung. –
Nicht ganz so allgemein läßt sich hinge-
gen vor der Hand noch entscheiden, ob in allen Welttheilen
die Proportion in der Anzahl der gebornen Knäbchen und
Mädchen, und die Dauer der Zeit und der Fortpflanzungsfähig-
keit bei beiden Geschlechtern so gleich sei, daß der Mensch über-
all so wie in Europa zur Monogamie bestimmt
werde*).

Sein Aufenthalt und seine Nahrung sind beide un-
beschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Erde, und nährt
sich mit den vielartigsten Stoffen aus dem weitesten Umfang

*) Doch vergl. auch Hrn. Staatsrath Hufeland über die
Gleichzahl beider Geschlechter im Menschengeschlecht. Berl. 1820. 8.
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[39/0049] in einer bestimmten Reihe von Lebensjahren; und dann einen besondern Theil an den Sexual-Organen, dessen Mangel oder Zerstörung als ein körperliches Kennzeichen der ver- letzten jungfräulichen Integrität anzusehen, und in der Form und Lage bei andern weiblichen Thieren nicht gefun- den ist. Was aber die Seelenfähigkeiten des Menschen betrifft, so hat er außer dem Begattungstriebe wenig Spuren von In- stinct (§. 34. u. f.), Kunsttriebe aber (§. 36.) schlechter- dings gar nicht. Dagegen ist er ausschließlich im Besitz der Vernunft (§. 37.), und der dadurch von ihm selbst erfundenen Rede oder Sprache (loquela), die nicht mit der bloß thierischen Stimme (vox) verwechselt werden darf (§. 25.), als welche auch den ganz jungen und selbst den stummgebornen Kindern zukommt. Und so folgt aus jenen beiden ausschließlichen Vorzügen das große ausschließliche Ei- genthum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze übri- ge thierische Schöpfung erhoben wird, das Vermögen sich selbst zu vervollkommnen (§. 37.) Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbedürfti- ges Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm bleibt so lan- ge Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein Gebiß, lernt so sehr spät erst auf seinen Füßen stehen, keins wird so sehr spät mannbar u. s. w. Selbst eine großen Vorzüge, Vernunft und Sprache, sind nur Keime, die sich nicht von selbst, son- dern erst durch fremde Hülfe, Cultur und Erziehung entwi- ckeln können; daher denn bei dieser Hülfsbedürftigkeit und bei diesen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine na- türliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaftlichen Verbindung. – Nicht ganz so allgemein läßt sich hinge- gen vor der Hand noch entscheiden, ob in allen Welttheilen die Proportion in der Anzahl der gebornen Knäbchen und Mädchen, und die Dauer der Zeit und der Fortpflanzungsfähig- keit bei beiden Geschlechtern so gleich sei, daß der Mensch über- all so wie in Europa zur Monogamie bestimmt werde *). Sein Aufenthalt und seine Nahrung sind beide un- beschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Erde, und nährt sich mit den vielartigsten Stoffen aus dem weitesten Umfang *) Doch vergl. auch Hrn. Staatsrath Hufeland über die Gleichzahl beider Geschlechter im Menschengeschlecht. Berl. 1820. 8.

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Zitationshilfe: Blumenbach, Johann Friedrich: Handbuch der Naturgeschichte. 12. Aufl. Wien, 1832, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_naturgeschichte_1832/49>, abgerufen am 29.03.2024.