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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
entgegengesetzten Fehler, Alles aus der Anlage der Rasse erklären zu
wollen. Er faszt die Rasse überdem zu sehr als Geburtsrasse auf
und betont die Einwirkung der Abstammung und des Geblüts zu aus-
schlieszlich. Es gibt aber nicht blosz eine angeborene Rasse --
allerdings die ursprüngliche und natürliche Bedeutung der Rasse -- es
gibt auch eine anerzogene Rasse, die wir sowohl in den Familien
als in den Völkern deutlich wahrnehmen, und die obwohl secundär und
in höherem Grade von menschlicher Freiheit bestimmt, doch einen ge-
waltigen Einflusz auf die Rechtsbildung übt. Man denke nur an den
römischen Klerus in dem modernen Europa, um sich die Macht der an-
erzogenen Rasse zu vergegenwärtigen. Von der Rasse ist das Indi-
viduum
zu unterscheiden, und die individuelle Einwirkung nicht minder
zu beachten. Die Weltgeschichte ist fast mehr noch von den Individuen
als von den Rassen bestimmt worden. Die wichtigen Aufschlüsse,
welche über diese Gegensätze in Friedr. Rohmers Lehre von den
politischen Parteien (dargestellt durch Theodor Rohmer, Zürich 1844)
gegeben werden, sind noch nicht so beachtet und gewürdigt worden,
wie das Werk es verdient.



Zweites Capitel.
II. Die Begriffe Nation und Volk.

Der vulgäre Sprachgebrauch vermischt und verwechselt
die beiden Ausdrücke Nation und Volk, welche die Wissen-
schaft sorgfältig zu unterscheiden genöthigt ist. Aber auch
die wissenschaftliche Sprache wird vielfältig dadurch verwirrt,
dasz die verschiedenen Culturvölker denselben Wörtern einen
verschiedenen Sinn beilegen.

Wir verstehen in der deutschen Sprache, ebenso wie die
alten Römer in der lateinischen Sprache unter Nation
(nationalita der Italiener) einen Culturbegriff, den die
neueren Franzosen und Engländer eher peuple und peeple
nennen. Wir heiszen den Statsbegriff Volk (populus),
welchen die Westvölker eher nation nennen. Die Etymologie
spricht für den deutschen Sprachgebrauch, denn das Wort
natio (von nasci) deutet auf die Geburt und die Rasse, und

Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
entgegengesetzten Fehler, Alles aus der Anlage der Rasse erklären zu
wollen. Er faszt die Rasse überdem zu sehr als Geburtsrasse auf
und betont die Einwirkung der Abstammung und des Geblüts zu aus-
schlieszlich. Es gibt aber nicht blosz eine angeborene Rasse
allerdings die ursprüngliche und natürliche Bedeutung der Rasse — es
gibt auch eine anerzogene Rasse, die wir sowohl in den Familien
als in den Völkern deutlich wahrnehmen, und die obwohl secundär und
in höherem Grade von menschlicher Freiheit bestimmt, doch einen ge-
waltigen Einflusz auf die Rechtsbildung übt. Man denke nur an den
römischen Klerus in dem modernen Europa, um sich die Macht der an-
erzogenen Rasse zu vergegenwärtigen. Von der Rasse ist das Indi-
viduum
zu unterscheiden, und die individuelle Einwirkung nicht minder
zu beachten. Die Weltgeschichte ist fast mehr noch von den Individuen
als von den Rassen bestimmt worden. Die wichtigen Aufschlüsse,
welche über diese Gegensätze in Friedr. Rohmers Lehre von den
politischen Parteien (dargestellt durch Theodor Rohmer, Zürich 1844)
gegeben werden, sind noch nicht so beachtet und gewürdigt worden,
wie das Werk es verdient.



Zweites Capitel.
II. Die Begriffe Nation und Volk.

Der vulgäre Sprachgebrauch vermischt und verwechselt
die beiden Ausdrücke Nation und Volk, welche die Wissen-
schaft sorgfältig zu unterscheiden genöthigt ist. Aber auch
die wissenschaftliche Sprache wird vielfältig dadurch verwirrt,
dasz die verschiedenen Culturvölker denselben Wörtern einen
verschiedenen Sinn beilegen.

Wir verstehen in der deutschen Sprache, ebenso wie die
alten Römer in der lateinischen Sprache unter Nation
(nationalità der Italiener) einen Culturbegriff, den die
neueren Franzosen und Engländer eher peuple und peeple
nennen. Wir heiszen den Statsbegriff Volk (populus),
welchen die Westvölker eher nation nennen. Die Etymologie
spricht für den deutschen Sprachgebrauch, denn das Wort
natio (von nasci) deutet auf die Geburt und die Rasse, und

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[91/0109] Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk. entgegengesetzten Fehler, Alles aus der Anlage der Rasse erklären zu wollen. Er faszt die Rasse überdem zu sehr als Geburtsrasse auf und betont die Einwirkung der Abstammung und des Geblüts zu aus- schlieszlich. Es gibt aber nicht blosz eine angeborene Rasse — allerdings die ursprüngliche und natürliche Bedeutung der Rasse — es gibt auch eine anerzogene Rasse, die wir sowohl in den Familien als in den Völkern deutlich wahrnehmen, und die obwohl secundär und in höherem Grade von menschlicher Freiheit bestimmt, doch einen ge- waltigen Einflusz auf die Rechtsbildung übt. Man denke nur an den römischen Klerus in dem modernen Europa, um sich die Macht der an- erzogenen Rasse zu vergegenwärtigen. Von der Rasse ist das Indi- viduum zu unterscheiden, und die individuelle Einwirkung nicht minder zu beachten. Die Weltgeschichte ist fast mehr noch von den Individuen als von den Rassen bestimmt worden. Die wichtigen Aufschlüsse, welche über diese Gegensätze in Friedr. Rohmers Lehre von den politischen Parteien (dargestellt durch Theodor Rohmer, Zürich 1844) gegeben werden, sind noch nicht so beachtet und gewürdigt worden, wie das Werk es verdient. Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk. Der vulgäre Sprachgebrauch vermischt und verwechselt die beiden Ausdrücke Nation und Volk, welche die Wissen- schaft sorgfältig zu unterscheiden genöthigt ist. Aber auch die wissenschaftliche Sprache wird vielfältig dadurch verwirrt, dasz die verschiedenen Culturvölker denselben Wörtern einen verschiedenen Sinn beilegen. Wir verstehen in der deutschen Sprache, ebenso wie die alten Römer in der lateinischen Sprache unter Nation (nationalità der Italiener) einen Culturbegriff, den die neueren Franzosen und Engländer eher peuple und peeple nennen. Wir heiszen den Statsbegriff Volk (populus), welchen die Westvölker eher nation nennen. Die Etymologie spricht für den deutschen Sprachgebrauch, denn das Wort natio (von nasci) deutet auf die Geburt und die Rasse, und

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/109>, abgerufen am 24.04.2024.