Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.
mit klarem Bewusztsein einen Theil seines Gebietes zur Selb-
ständigkeit heranziehe und denselben mit statlichen Hoheits-
rechten ausstatte. In dieser Weise verfährt England in unserer
Zeit gegen Canada und andere englische Nebenländer.

3. Endlich kommt vor die Institution eines neuen
States durch einen fremden Herrscher, insbesondere
durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um
ihr Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat
in den Jahren der Napoleonischen Herrschaft gesehen, wie
eine Reihe von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder
nach dem Willen des französischen Kaisers neu errichtet
wurden. Europa hat aber auch erlebt, dasz diese willkür-
lichen Schöpfungen momentaner Uebermacht zu keinem inner-
lich kräftigen Leben gelangten, und kaum ins Dasein gerufen
wieder abstarben oder getödtet wurden. Es ist das ein be-
redter Beweis, dasz unter allen Formen der Statenbildung
diese die unvollkommenste ist, und am wenigsten Gewähr
darbietet für die Fortdauer solcher Staten.



Fünftes Capitel.
IV. Untergang der Staten.

Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten
überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte
zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas-
sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich
verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber
daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine
gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit schlieszen.
Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie-
gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht
gleichmäszig vorhanden, und die Geschichte lehrt uns, dasz

Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.
mit klarem Bewusztsein einen Theil seines Gebietes zur Selb-
ständigkeit heranziehe und denselben mit statlichen Hoheits-
rechten ausstatte. In dieser Weise verfährt England in unserer
Zeit gegen Canada und andere englische Nebenländer.

3. Endlich kommt vor die Institution eines neuen
States durch einen fremden Herrscher, insbesondere
durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um
ihr Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat
in den Jahren der Napoleonischen Herrschaft gesehen, wie
eine Reihe von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder
nach dem Willen des französischen Kaisers neu errichtet
wurden. Europa hat aber auch erlebt, dasz diese willkür-
lichen Schöpfungen momentaner Uebermacht zu keinem inner-
lich kräftigen Leben gelangten, und kaum ins Dasein gerufen
wieder abstarben oder getödtet wurden. Es ist das ein be-
redter Beweis, dasz unter allen Formen der Statenbildung
diese die unvollkommenste ist, und am wenigsten Gewähr
darbietet für die Fortdauer solcher Staten.



Fünftes Capitel.
IV. Untergang der Staten.

Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten
überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte
zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas-
sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich
verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber
daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine
gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit schlieszen.
Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie-
gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht
gleichmäszig vorhanden, und die Geschichte lehrt uns, dasz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0337" n="319"/><fw place="top" type="header">Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.</fw><lb/>
mit klarem Bewusztsein einen Theil seines Gebietes zur Selb-<lb/>
ständigkeit heranziehe und denselben mit statlichen Hoheits-<lb/>
rechten ausstatte. In dieser Weise verfährt England in unserer<lb/>
Zeit gegen Canada und andere englische Nebenländer.</p><lb/>
          <p>3. Endlich kommt vor die <hi rendition="#g">Institution</hi> eines neuen<lb/>
States <hi rendition="#g">durch einen fremden Herrscher</hi>, insbesondere<lb/>
durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um<lb/>
ihr Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat<lb/>
in den Jahren der Napoleonischen Herrschaft gesehen, wie<lb/>
eine Reihe von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder<lb/>
nach dem Willen des französischen Kaisers neu errichtet<lb/>
wurden. Europa hat aber auch erlebt, dasz diese willkür-<lb/>
lichen Schöpfungen momentaner Uebermacht zu keinem inner-<lb/>
lich kräftigen Leben gelangten, und kaum ins Dasein gerufen<lb/>
wieder abstarben oder getödtet wurden. Es ist das ein be-<lb/>
redter Beweis, dasz unter allen Formen der Statenbildung<lb/>
diese die unvollkommenste ist, und am wenigsten Gewähr<lb/>
darbietet für die Fortdauer solcher Staten.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>Fünftes Capitel.<lb/><hi rendition="#b">IV. Untergang der Staten.</hi></head><lb/>
          <p>Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten<lb/>
überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte<lb/>
zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas-<lb/>
sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich<lb/>
verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber<lb/>
daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine<lb/><hi rendition="#g">gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit</hi> schlieszen.<lb/>
Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie-<lb/>
gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht<lb/>
gleichmäszig vorhanden, und die Geschichte lehrt uns, dasz<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0337] Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten. mit klarem Bewusztsein einen Theil seines Gebietes zur Selb- ständigkeit heranziehe und denselben mit statlichen Hoheits- rechten ausstatte. In dieser Weise verfährt England in unserer Zeit gegen Canada und andere englische Nebenländer. 3. Endlich kommt vor die Institution eines neuen States durch einen fremden Herrscher, insbesondere durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um ihr Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat in den Jahren der Napoleonischen Herrschaft gesehen, wie eine Reihe von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder nach dem Willen des französischen Kaisers neu errichtet wurden. Europa hat aber auch erlebt, dasz diese willkür- lichen Schöpfungen momentaner Uebermacht zu keinem inner- lich kräftigen Leben gelangten, und kaum ins Dasein gerufen wieder abstarben oder getödtet wurden. Es ist das ein be- redter Beweis, dasz unter allen Formen der Statenbildung diese die unvollkommenste ist, und am wenigsten Gewähr darbietet für die Fortdauer solcher Staten. Fünftes Capitel. IV. Untergang der Staten. Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas- sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit schlieszen. Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie- gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht gleichmäszig vorhanden, und die Geschichte lehrt uns, dasz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/337
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/337>, abgerufen am 25.04.2024.