Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
die verschiedenen Bestandtheile eines States ihre Besonderheit
schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist
gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei-
lungen Polens (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele
solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre
Aufklärung und Humanität eitel war.

6. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne
Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch
Entzug oder Abtretung von Hoheitsrechten bisher selb-
ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen.
Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des
deutschen Reiches, für diese Art des Statenuntergangs
ist die Geschichte Frankreichs besonders lehrreich. Die
Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XI., hat
so eine Masse von "souveränen Seigneurien," in welche das
Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch
Deutschland hat durch die zahlreichen Mediatisirungen
seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei-
ner Staten eingeschlagen.



Sechstes Capitel.
B. Speculative Theorien.
I. Der sogenannte Naturstand.

Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand
zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten,
und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit
habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die
Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern
Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt,
und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es
noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in

Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
die verschiedenen Bestandtheile eines States ihre Besonderheit
schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist
gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei-
lungen Polens (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele
solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre
Aufklärung und Humanität eitel war.

6. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne
Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch
Entzug oder Abtretung von Hoheitsrechten bisher selb-
ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen.
Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des
deutschen Reiches, für diese Art des Statenuntergangs
ist die Geschichte Frankreichs besonders lehrreich. Die
Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XI., hat
so eine Masse von „souveränen Seigneurien,“ in welche das
Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch
Deutschland hat durch die zahlreichen Mediatisirungen
seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei-
ner Staten eingeschlagen.



Sechstes Capitel.
B. Speculative Theorien.
I. Der sogenannte Naturstand.

Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand
zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten,
und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit
habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die
Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern
Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt,
und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es
noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0341" n="323"/><fw place="top" type="header">Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.</fw><lb/>
die verschiedenen Bestandtheile eines States ihre Besonderheit<lb/>
schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist<lb/>
gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei-<lb/>
lungen <hi rendition="#g">Polens</hi> (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele<lb/>
solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre<lb/>
Aufklärung und Humanität eitel war.</p><lb/>
          <p>6. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne<lb/>
Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch<lb/><hi rendition="#g">Entzug</hi> oder <hi rendition="#g">Abtretung</hi> von Hoheitsrechten bisher selb-<lb/>
ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen.<lb/>
Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des<lb/><hi rendition="#g">deutschen Reiches</hi>, für diese Art des Statenuntergangs<lb/>
ist die Geschichte <hi rendition="#g">Frankreichs</hi> besonders lehrreich. Die<lb/>
Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XI., hat<lb/>
so eine Masse von &#x201E;souveränen Seigneurien,&#x201C; in welche das<lb/>
Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch<lb/>
Deutschland hat durch die zahlreichen <hi rendition="#g">Mediatisirungen</hi><lb/>
seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei-<lb/>
ner Staten eingeschlagen.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>Sechstes Capitel.<lb/><hi rendition="#b">B. Speculative Theorien.<lb/>
I. Der sogenannte Naturstand.</hi></head><lb/>
          <p>Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand<lb/>
zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten,<lb/>
und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit<lb/>
habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die<lb/>
Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern<lb/>
Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt,<lb/>
und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es<lb/>
noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0341] Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand. die verschiedenen Bestandtheile eines States ihre Besonderheit schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei- lungen Polens (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre Aufklärung und Humanität eitel war. 6. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch Entzug oder Abtretung von Hoheitsrechten bisher selb- ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen. Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des deutschen Reiches, für diese Art des Statenuntergangs ist die Geschichte Frankreichs besonders lehrreich. Die Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XI., hat so eine Masse von „souveränen Seigneurien,“ in welche das Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch Deutschland hat durch die zahlreichen Mediatisirungen seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei- ner Staten eingeschlagen. Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand. Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten, und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt, und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/341
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/341>, abgerufen am 23.04.2024.