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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.
Werden desselben; die Neigung, die höchste Macht und das höchste
Recht der Obrigkeit vor jeder Beeinträchtigung zu sichern, wird in ihm
zuweilen bis zum Hohn und Hasz gegen jeden Versuch gesteigert, die
Rechte der Unterthanen vor Miszbrauch der obrigkeitlichen Gewalt zu
sichern und die Ausübung dieser zu beschränken, als ob es ein Frevel
wäre, das göttliche Pflichtgesetz auch durch menschliche Einrichtungen
vor menschlichen Verletzungen zu bewahren. Er ist daher auch ein
erklärter Gegner des ganzen constitutionellen Systems und bildet die
mittelalterliche Vorstellung, dasz die statliche Herrschaft dem Eigenthum
gleich sei, in schroffer Weise aus.



Zehntes Capitel.
V. Der organische Statstrieb und das Statsbewusztsein.

Es genügt nicht, die gewöhnlichen speculativen Theorien
zu verwerfen. Das Bedürfnisz, die Eine Ursache der Staten-
bildung im Gegensatz zu den mannichfaltigen Formen der
Erscheinung zu erkennen, bleibt unbefriedigt.

Indem wir auf die menschliche Natur zurückgehen,
finden wir in ihr die gemeinsame Ursache aller Statenbildung.
Die Menschennatur hat neben der individuellen Mannichfaltig-
keit auch die Gemeinschaft und Einheit als Anlage in
sich; und indem diese Anlage entwickelt wird und zunächst
die Nationen als Völker sich in ihrer innern Gemeinschaft
und Einheit erfahren und demgemäsz äuszerlich gestalten,
bringt der innere Statstrieb die äuszere Organisation des
Gesammtdaseins in Form männlicher Selbstbeherrschung, d. h.
in Form des States hervor.

Dieser Statstrieb wirkt anfänglich instinctiv und unbe-
wuszt in den Menschen. Die Menge schaut halb mit Ver-
trauen, halb mit Furcht zu einem Häuptling auf, dessen über-
legener Muth und Geist ihr imponirt, den sie als den höch-
sten Führer und Ausdruck ihrer Gemeinschaft verehrt. Sie
ordnet sich ihm unter und gehorcht seinem Befehle.


Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.
Werden desselben; die Neigung, die höchste Macht und das höchste
Recht der Obrigkeit vor jeder Beeinträchtigung zu sichern, wird in ihm
zuweilen bis zum Hohn und Hasz gegen jeden Versuch gesteigert, die
Rechte der Unterthanen vor Miszbrauch der obrigkeitlichen Gewalt zu
sichern und die Ausübung dieser zu beschränken, als ob es ein Frevel
wäre, das göttliche Pflichtgesetz auch durch menschliche Einrichtungen
vor menschlichen Verletzungen zu bewahren. Er ist daher auch ein
erklärter Gegner des ganzen constitutionellen Systems und bildet die
mittelalterliche Vorstellung, dasz die statliche Herrschaft dem Eigenthum
gleich sei, in schroffer Weise aus.



Zehntes Capitel.
V. Der organische Statstrieb und das Statsbewusztsein.

Es genügt nicht, die gewöhnlichen speculativen Theorien
zu verwerfen. Das Bedürfnisz, die Eine Ursache der Staten-
bildung im Gegensatz zu den mannichfaltigen Formen der
Erscheinung zu erkennen, bleibt unbefriedigt.

Indem wir auf die menschliche Natur zurückgehen,
finden wir in ihr die gemeinsame Ursache aller Statenbildung.
Die Menschennatur hat neben der individuellen Mannichfaltig-
keit auch die Gemeinschaft und Einheit als Anlage in
sich; und indem diese Anlage entwickelt wird und zunächst
die Nationen als Völker sich in ihrer innern Gemeinschaft
und Einheit erfahren und demgemäsz äuszerlich gestalten,
bringt der innere Statstrieb die äuszere Organisation des
Gesammtdaseins in Form männlicher Selbstbeherrschung, d. h.
in Form des States hervor.

Dieser Statstrieb wirkt anfänglich instinctiv und unbe-
wuszt in den Menschen. Die Menge schaut halb mit Ver-
trauen, halb mit Furcht zu einem Häuptling auf, dessen über-
legener Muth und Geist ihr imponirt, den sie als den höch-
sten Führer und Ausdruck ihrer Gemeinschaft verehrt. Sie
ordnet sich ihm unter und gehorcht seinem Befehle.


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[341/0359] Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc. Werden desselben; die Neigung, die höchste Macht und das höchste Recht der Obrigkeit vor jeder Beeinträchtigung zu sichern, wird in ihm zuweilen bis zum Hohn und Hasz gegen jeden Versuch gesteigert, die Rechte der Unterthanen vor Miszbrauch der obrigkeitlichen Gewalt zu sichern und die Ausübung dieser zu beschränken, als ob es ein Frevel wäre, das göttliche Pflichtgesetz auch durch menschliche Einrichtungen vor menschlichen Verletzungen zu bewahren. Er ist daher auch ein erklärter Gegner des ganzen constitutionellen Systems und bildet die mittelalterliche Vorstellung, dasz die statliche Herrschaft dem Eigenthum gleich sei, in schroffer Weise aus. Zehntes Capitel. V. Der organische Statstrieb und das Statsbewusztsein. Es genügt nicht, die gewöhnlichen speculativen Theorien zu verwerfen. Das Bedürfnisz, die Eine Ursache der Staten- bildung im Gegensatz zu den mannichfaltigen Formen der Erscheinung zu erkennen, bleibt unbefriedigt. Indem wir auf die menschliche Natur zurückgehen, finden wir in ihr die gemeinsame Ursache aller Statenbildung. Die Menschennatur hat neben der individuellen Mannichfaltig- keit auch die Gemeinschaft und Einheit als Anlage in sich; und indem diese Anlage entwickelt wird und zunächst die Nationen als Völker sich in ihrer innern Gemeinschaft und Einheit erfahren und demgemäsz äuszerlich gestalten, bringt der innere Statstrieb die äuszere Organisation des Gesammtdaseins in Form männlicher Selbstbeherrschung, d. h. in Form des States hervor. Dieser Statstrieb wirkt anfänglich instinctiv und unbe- wuszt in den Menschen. Die Menge schaut halb mit Ver- trauen, halb mit Furcht zu einem Häuptling auf, dessen über- legener Muth und Geist ihr imponirt, den sie als den höch- sten Führer und Ausdruck ihrer Gemeinschaft verehrt. Sie ordnet sich ihm unter und gehorcht seinem Befehle.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/359>, abgerufen am 29.03.2024.