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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Buch.
Der Statszweck.


Erstes Capitel.
Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?

1. Die Frage wird oft so gestellt: Ist der Stat Zweck
oder Mittel? d. h. hat der Stat einen ihm eigenen Zweck in
sich, einen Selbstzweck, oder hat er lediglich den einzelnen
Menschen als Mittel für ihre Lebenszwecke zu dienen?

Die antike Statslehre, vorzüglich der Hellenen, betrach-
tete den Stat als das höchste Ziel des Menschenlebens über-
haupt, als die vollkommene Menschheit und war desz-
halb geneigt, nur den Selbstzweck des Stats zu sehen.
Verglichen mit dem State erschienen ihr dann die Einzel-
menschen nur als Theile des States, aber nicht als selbstbe-
rechtigte Wesen. Nicht der Stat diente den Individuen, son-
dern umgekehrt die Individuen dienten dem State, als die
Theile dem Ganzen, als die Glieder dem Körper. Unbedenk-
lich wurde daher die Privatwohlfahrt der Statswohlfahrt ge-
opfert. Sie hatte nur insofern eine Berechtigung und einen
Werth, als sie zugleich der Statswohlfahrt nützlich war.
Ebenso wurde die Privatfreiheit nur als ein Theil der Volks-
freiheit verstanden. Auch sie fand weder Schutz noch För-

Fünftes Buch.
Der Statszweck.


Erstes Capitel.
Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?

1. Die Frage wird oft so gestellt: Ist der Stat Zweck
oder Mittel? d. h. hat der Stat einen ihm eigenen Zweck in
sich, einen Selbstzweck, oder hat er lediglich den einzelnen
Menschen als Mittel für ihre Lebenszwecke zu dienen?

Die antike Statslehre, vorzüglich der Hellenen, betrach-
tete den Stat als das höchste Ziel des Menschenlebens über-
haupt, als die vollkommene Menschheit und war desz-
halb geneigt, nur den Selbstzweck des Stats zu sehen.
Verglichen mit dem State erschienen ihr dann die Einzel-
menschen nur als Theile des States, aber nicht als selbstbe-
rechtigte Wesen. Nicht der Stat diente den Individuen, son-
dern umgekehrt die Individuen dienten dem State, als die
Theile dem Ganzen, als die Glieder dem Körper. Unbedenk-
lich wurde daher die Privatwohlfahrt der Statswohlfahrt ge-
opfert. Sie hatte nur insofern eine Berechtigung und einen
Werth, als sie zugleich der Statswohlfahrt nützlich war.
Ebenso wurde die Privatfreiheit nur als ein Theil der Volks-
freiheit verstanden. Auch sie fand weder Schutz noch För-

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[[345]/0363] Fünftes Buch. Der Statszweck. Erstes Capitel. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel? 1. Die Frage wird oft so gestellt: Ist der Stat Zweck oder Mittel? d. h. hat der Stat einen ihm eigenen Zweck in sich, einen Selbstzweck, oder hat er lediglich den einzelnen Menschen als Mittel für ihre Lebenszwecke zu dienen? Die antike Statslehre, vorzüglich der Hellenen, betrach- tete den Stat als das höchste Ziel des Menschenlebens über- haupt, als die vollkommene Menschheit und war desz- halb geneigt, nur den Selbstzweck des Stats zu sehen. Verglichen mit dem State erschienen ihr dann die Einzel- menschen nur als Theile des States, aber nicht als selbstbe- rechtigte Wesen. Nicht der Stat diente den Individuen, son- dern umgekehrt die Individuen dienten dem State, als die Theile dem Ganzen, als die Glieder dem Körper. Unbedenk- lich wurde daher die Privatwohlfahrt der Statswohlfahrt ge- opfert. Sie hatte nur insofern eine Berechtigung und einen Werth, als sie zugleich der Statswohlfahrt nützlich war. Ebenso wurde die Privatfreiheit nur als ein Theil der Volks- freiheit verstanden. Auch sie fand weder Schutz noch För-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. [345]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/363>, abgerufen am 28.03.2024.