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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
das moderne Statsbewusztsein, ergibt sich aus seiner beharrlichen Be-
zeichnung der obrigkeitlichen Statsgewalt als "Eigenthum" der Fürsten.
Indem er diesen mittelalterlichen Standpunkt wählt, geräth er mit der
gesammten Bewegung der neuen Zeit in den feindseligsten Gegensatz;
er kann so an einer kleinen Stelle die Strömung eine Weile stauen, aber
er wird von den höher gehenden Wogen in Kurzem sammt dem morschen
Gezimmer, das er sich in den Strom hineinbaut, weggerissen und ver-
schlungen werden. (Ich lasse diese zuerst 1857 geschriebene Stelle
wörtlich stehen. Sie hat 1866 ihre Erfüllung erlebt.) Wenn über irgend
etwas unsere Zeit klar und entschieden ist, so ist es darüber, dasz die
Statsgewalt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht ist, d. h.
dem gemeinsamen politischen Dasein und Leben des ganzen Volkes zu-
gehört, und dasz sie daher kein Eigenthum eines Individuums für sich,
d. h. kein Privatrecht sein kann
.



Fünfzehntes Capitel.
2. Falsche Vorstellungen von der constitutionellen Monarchie.

Die civilisirten Staten Europa's haben sich fast alle dem
System der constitutionellen Monarchie zugewendet,
und in ihr den Abschlusz der Gegensätze, welche das Mittel-
alter hinterlassen hat, der Zerbröckelung und Erstarrung des
States einerseits und der absoluten Monarchie andererseits,
in ihr auch eine Versöhnung der verschiedenen politischen
Strömungen und Richtungen der Zeit, insbesondere der De-
mokratie und der Monarchie zu finden gehofft. Die Erörterung
der Grundlagen dieses Systems hat demnach ein unmittelbar
practisches Interesse.

Beseitigen wir zu diesem Behuf vorerst einige Irrthümer
und Miszverständnisse dieses Systems:

1. Die französische Revolution hat in den ersten Jahren
den Gedanken Rousseau's verwirklichen wollen, dasz es im
State zwei Gewalten gebe, die des Willens, die gesetz-
gebende
, und die der physischen Kraft, welche den
Willen vollziehe. "Das Volk will, der König führt aus,"

Sechstes Buch. Die Statsformen.
das moderne Statsbewusztsein, ergibt sich aus seiner beharrlichen Be-
zeichnung der obrigkeitlichen Statsgewalt als „Eigenthum“ der Fürsten.
Indem er diesen mittelalterlichen Standpunkt wählt, geräth er mit der
gesammten Bewegung der neuen Zeit in den feindseligsten Gegensatz;
er kann so an einer kleinen Stelle die Strömung eine Weile stauen, aber
er wird von den höher gehenden Wogen in Kurzem sammt dem morschen
Gezimmer, das er sich in den Strom hineinbaut, weggerissen und ver-
schlungen werden. (Ich lasse diese zuerst 1857 geschriebene Stelle
wörtlich stehen. Sie hat 1866 ihre Erfüllung erlebt.) Wenn über irgend
etwas unsere Zeit klar und entschieden ist, so ist es darüber, dasz die
Statsgewalt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht ist, d. h.
dem gemeinsamen politischen Dasein und Leben des ganzen Volkes zu-
gehört, und dasz sie daher kein Eigenthum eines Individuums für sich,
d. h. kein Privatrecht sein kann
.



Fünfzehntes Capitel.
2. Falsche Vorstellungen von der constitutionellen Monarchie.

Die civilisirten Staten Europa's haben sich fast alle dem
System der constitutionellen Monarchie zugewendet,
und in ihr den Abschlusz der Gegensätze, welche das Mittel-
alter hinterlassen hat, der Zerbröckelung und Erstarrung des
States einerseits und der absoluten Monarchie andererseits,
in ihr auch eine Versöhnung der verschiedenen politischen
Strömungen und Richtungen der Zeit, insbesondere der De-
mokratie und der Monarchie zu finden gehofft. Die Erörterung
der Grundlagen dieses Systems hat demnach ein unmittelbar
practisches Interesse.

Beseitigen wir zu diesem Behuf vorerst einige Irrthümer
und Miszverständnisse dieses Systems:

1. Die französische Revolution hat in den ersten Jahren
den Gedanken Rousseau's verwirklichen wollen, dasz es im
State zwei Gewalten gebe, die des Willens, die gesetz-
gebende
, und die der physischen Kraft, welche den
Willen vollziehe. „Das Volk will, der König führt aus,“

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[486/0504] Sechstes Buch. Die Statsformen. das moderne Statsbewusztsein, ergibt sich aus seiner beharrlichen Be- zeichnung der obrigkeitlichen Statsgewalt als „Eigenthum“ der Fürsten. Indem er diesen mittelalterlichen Standpunkt wählt, geräth er mit der gesammten Bewegung der neuen Zeit in den feindseligsten Gegensatz; er kann so an einer kleinen Stelle die Strömung eine Weile stauen, aber er wird von den höher gehenden Wogen in Kurzem sammt dem morschen Gezimmer, das er sich in den Strom hineinbaut, weggerissen und ver- schlungen werden. (Ich lasse diese zuerst 1857 geschriebene Stelle wörtlich stehen. Sie hat 1866 ihre Erfüllung erlebt.) Wenn über irgend etwas unsere Zeit klar und entschieden ist, so ist es darüber, dasz die Statsgewalt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht ist, d. h. dem gemeinsamen politischen Dasein und Leben des ganzen Volkes zu- gehört, und dasz sie daher kein Eigenthum eines Individuums für sich, d. h. kein Privatrecht sein kann. Fünfzehntes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen von der constitutionellen Monarchie. Die civilisirten Staten Europa's haben sich fast alle dem System der constitutionellen Monarchie zugewendet, und in ihr den Abschlusz der Gegensätze, welche das Mittel- alter hinterlassen hat, der Zerbröckelung und Erstarrung des States einerseits und der absoluten Monarchie andererseits, in ihr auch eine Versöhnung der verschiedenen politischen Strömungen und Richtungen der Zeit, insbesondere der De- mokratie und der Monarchie zu finden gehofft. Die Erörterung der Grundlagen dieses Systems hat demnach ein unmittelbar practisches Interesse. Beseitigen wir zu diesem Behuf vorerst einige Irrthümer und Miszverständnisse dieses Systems: 1. Die französische Revolution hat in den ersten Jahren den Gedanken Rousseau's verwirklichen wollen, dasz es im State zwei Gewalten gebe, die des Willens, die gesetz- gebende, und die der physischen Kraft, welche den Willen vollziehe. „Das Volk will, der König führt aus,“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/504>, abgerufen am 25.04.2024.