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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

Allmählich aber, bei steigender Cultur und nach sicheren
Lebenserfahrungen erhellt sich der dunkle Trieb und es bildet
sich das Statsbewusztsein und der Statswille aus.
Naturgemäsz zuerst in den Führern und Häuptern des Volks.
In ihnen wird der Statstrieb zu activem Statsbewuszt-
sein
erhöht und zu ordnendem und wirkendem Stats-
willen
gekräftigt. Die Masse der Regierten gelangt einst-
weilen nur zu einem passiven Statsbewusztsein.

Nach und nach breitet sich das Statsbewusztsein aber
auch in den höhern, zuletzt in den unteren Ständen und
Classen der Bevölkerung aus und wird auch da wirksam und
thätig.

Diese Annahme eines in der menschlichen Natur vorerst
unbewuszt wirkenden Statstriebs, später bewuszt wirkenden
Statsgeistes steht mit den geschichtlichen Entstehungsformen
der Staten nicht im Widerspruch, sondern erklärt dieselben.

In den Mächtigen steigert er sich leidenschaftlich bis
zur Herrschaft, in den Schwachen bis zur knechtischen
Unterwürfigkeit. In den Freien aber ist er durch den Ver-
stand erleuchtet und durch das sittliche Selbstgefühl, welches
mit dem ebenfalls sittlichen Gesammtgefühl in Harmonie ist,
würdig erfüllt. Nur der freie Stat ist wahrer Stat, weil nur
in ihm der Statsgeist allgemein und in allen Classen des
Volks wirksam ist.

Was Wahres in den falschen speculativen Theorien ent-
halten war, finden wir in dieser Auffassung, welche die Alten
schon ausgesprochen hatten, 1 wieder, ohne die entstellenden
Irrthümer jener Theorien. Mittelbar erscheint dann der
Stat auch als etwas Göttliches, indem Gott den Statstrieb
in die menschliche Natur gelegt und in sofern die Verwirk-
lichung des Stats gewollt hat. Das gesunde religiöse Gefühl

1 Siehe oben S. 339. Vgl. auch Cicero de Republ. I. 25. "Ejus
(populi) prima causa coeundi est non tam imbecillitas, quam naturalis
quaedam hominum quasi congregatio."
Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

Allmählich aber, bei steigender Cultur und nach sicheren
Lebenserfahrungen erhellt sich der dunkle Trieb und es bildet
sich das Statsbewusztsein und der Statswille aus.
Naturgemäsz zuerst in den Führern und Häuptern des Volks.
In ihnen wird der Statstrieb zu activem Statsbewuszt-
sein
erhöht und zu ordnendem und wirkendem Stats-
willen
gekräftigt. Die Masse der Regierten gelangt einst-
weilen nur zu einem passiven Statsbewusztsein.

Nach und nach breitet sich das Statsbewusztsein aber
auch in den höhern, zuletzt in den unteren Ständen und
Classen der Bevölkerung aus und wird auch da wirksam und
thätig.

Diese Annahme eines in der menschlichen Natur vorerst
unbewuszt wirkenden Statstriebs, später bewuszt wirkenden
Statsgeistes steht mit den geschichtlichen Entstehungsformen
der Staten nicht im Widerspruch, sondern erklärt dieselben.

In den Mächtigen steigert er sich leidenschaftlich bis
zur Herrschaft, in den Schwachen bis zur knechtischen
Unterwürfigkeit. In den Freien aber ist er durch den Ver-
stand erleuchtet und durch das sittliche Selbstgefühl, welches
mit dem ebenfalls sittlichen Gesammtgefühl in Harmonie ist,
würdig erfüllt. Nur der freie Stat ist wahrer Stat, weil nur
in ihm der Statsgeist allgemein und in allen Classen des
Volks wirksam ist.

Was Wahres in den falschen speculativen Theorien ent-
halten war, finden wir in dieser Auffassung, welche die Alten
schon ausgesprochen hatten, 1 wieder, ohne die entstellenden
Irrthümer jener Theorien. Mittelbar erscheint dann der
Stat auch als etwas Göttliches, indem Gott den Statstrieb
in die menschliche Natur gelegt und in sofern die Verwirk-
lichung des Stats gewollt hat. Das gesunde religiöse Gefühl

1 Siehe oben S. 339. Vgl. auch Cicero de Republ. I. 25. „Ejus
(populi) prima causa coëundi est non tam imbecillitas, quam naturalis
quaedam hominum quasi congregatio.“
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[342/0360] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. Allmählich aber, bei steigender Cultur und nach sicheren Lebenserfahrungen erhellt sich der dunkle Trieb und es bildet sich das Statsbewusztsein und der Statswille aus. Naturgemäsz zuerst in den Führern und Häuptern des Volks. In ihnen wird der Statstrieb zu activem Statsbewuszt- sein erhöht und zu ordnendem und wirkendem Stats- willen gekräftigt. Die Masse der Regierten gelangt einst- weilen nur zu einem passiven Statsbewusztsein. Nach und nach breitet sich das Statsbewusztsein aber auch in den höhern, zuletzt in den unteren Ständen und Classen der Bevölkerung aus und wird auch da wirksam und thätig. Diese Annahme eines in der menschlichen Natur vorerst unbewuszt wirkenden Statstriebs, später bewuszt wirkenden Statsgeistes steht mit den geschichtlichen Entstehungsformen der Staten nicht im Widerspruch, sondern erklärt dieselben. In den Mächtigen steigert er sich leidenschaftlich bis zur Herrschaft, in den Schwachen bis zur knechtischen Unterwürfigkeit. In den Freien aber ist er durch den Ver- stand erleuchtet und durch das sittliche Selbstgefühl, welches mit dem ebenfalls sittlichen Gesammtgefühl in Harmonie ist, würdig erfüllt. Nur der freie Stat ist wahrer Stat, weil nur in ihm der Statsgeist allgemein und in allen Classen des Volks wirksam ist. Was Wahres in den falschen speculativen Theorien ent- halten war, finden wir in dieser Auffassung, welche die Alten schon ausgesprochen hatten, 1 wieder, ohne die entstellenden Irrthümer jener Theorien. Mittelbar erscheint dann der Stat auch als etwas Göttliches, indem Gott den Statstrieb in die menschliche Natur gelegt und in sofern die Verwirk- lichung des Stats gewollt hat. Das gesunde religiöse Gefühl 1 Siehe oben S. 339. Vgl. auch Cicero de Republ. I. 25. „Ejus (populi) prima causa coëundi est non tam imbecillitas, quam naturalis quaedam hominum quasi congregatio.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/360>, abgerufen am 29.03.2024.