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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
weihtes, dasz diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele
eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird,
erfüllen und in ihm den Muth, für das Recht einzustehen,
wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die
Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug
diesen so zu durchdringen, dasz jederzeit die persönliche Er-
füllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen ent-
spricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psy-
chische Einwirkung des Amtes
auf seinen individuellen
Geist und sein Gemüth, und wenn er einen offenen Sinn hat,
kann es ihm nicht entgehen, dasz in dem Amte selbst eine
Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine
enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist,
aber immerhin von jener verschieden ist und seine
Persönlichkeit überdauert
.

c) Die Völker und Staten haben eine Entwicklung und
ein eigenthümliches Wachsthum. Die Perioden der Völker-
und Statengeschichte bemessen sich nach groszen, die Alters-
perioden der einzelnen Menschen weit überragenden Zeitaltern.
Wenn diese nach Jahren und nach Jahrzehnten sich unter-
scheiden, so sind jene über Jahrhunderte ausgebreitet. Jede
Periode hat wieder ihren besonderen Charakter und die Ge-
sammtgeschichte eines Volkes und States stellt sich als ein
zusammenhängendes Ganze dar. Die Kindheit der Völker hat
einen andern Charakter als ihr reifes Alter und jeder Stats-
mann ist genöthigt, die Lebenszeit, in welcher der Stat sich
befindet, zu beachten. Auch da gilt die Lebensweisheit: Ein
jedes Ding hat seine Zeit.

Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit
der Entwicklung der organischen Naturwesen auch ein beach-
tenswerther Gegensatz. Während nämlich das Leben der
Pflanze, des Thieres und des Menschen in regelmäszigen
Perioden und Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der
Entwicklungsgang der Staten und der statlichen Institutionen

Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
weihtes, dasz diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele
eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird,
erfüllen und in ihm den Muth, für das Recht einzustehen,
wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die
Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug
diesen so zu durchdringen, dasz jederzeit die persönliche Er-
füllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen ent-
spricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psy-
chische Einwirkung des Amtes
auf seinen individuellen
Geist und sein Gemüth, und wenn er einen offenen Sinn hat,
kann es ihm nicht entgehen, dasz in dem Amte selbst eine
Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine
enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist,
aber immerhin von jener verschieden ist und seine
Persönlichkeit überdauert
.

c) Die Völker und Staten haben eine Entwicklung und
ein eigenthümliches Wachsthum. Die Perioden der Völker-
und Statengeschichte bemessen sich nach groszen, die Alters-
perioden der einzelnen Menschen weit überragenden Zeitaltern.
Wenn diese nach Jahren und nach Jahrzehnten sich unter-
scheiden, so sind jene über Jahrhunderte ausgebreitet. Jede
Periode hat wieder ihren besonderen Charakter und die Ge-
sammtgeschichte eines Volkes und States stellt sich als ein
zusammenhängendes Ganze dar. Die Kindheit der Völker hat
einen andern Charakter als ihr reifes Alter und jeder Stats-
mann ist genöthigt, die Lebenszeit, in welcher der Stat sich
befindet, zu beachten. Auch da gilt die Lebensweisheit: Ein
jedes Ding hat seine Zeit.

Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit
der Entwicklung der organischen Naturwesen auch ein beach-
tenswerther Gegensatz. Während nämlich das Leben der
Pflanze, des Thieres und des Menschen in regelmäszigen
Perioden und Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der
Entwicklungsgang der Staten und der statlichen Institutionen

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[21/0039] Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff. weihtes, dasz diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird, erfüllen und in ihm den Muth, für das Recht einzustehen, wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug diesen so zu durchdringen, dasz jederzeit die persönliche Er- füllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen ent- spricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psy- chische Einwirkung des Amtes auf seinen individuellen Geist und sein Gemüth, und wenn er einen offenen Sinn hat, kann es ihm nicht entgehen, dasz in dem Amte selbst eine Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist, aber immerhin von jener verschieden ist und seine Persönlichkeit überdauert. c) Die Völker und Staten haben eine Entwicklung und ein eigenthümliches Wachsthum. Die Perioden der Völker- und Statengeschichte bemessen sich nach groszen, die Alters- perioden der einzelnen Menschen weit überragenden Zeitaltern. Wenn diese nach Jahren und nach Jahrzehnten sich unter- scheiden, so sind jene über Jahrhunderte ausgebreitet. Jede Periode hat wieder ihren besonderen Charakter und die Ge- sammtgeschichte eines Volkes und States stellt sich als ein zusammenhängendes Ganze dar. Die Kindheit der Völker hat einen andern Charakter als ihr reifes Alter und jeder Stats- mann ist genöthigt, die Lebenszeit, in welcher der Stat sich befindet, zu beachten. Auch da gilt die Lebensweisheit: Ein jedes Ding hat seine Zeit. Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit der Entwicklung der organischen Naturwesen auch ein beach- tenswerther Gegensatz. Während nämlich das Leben der Pflanze, des Thieres und des Menschen in regelmäszigen Perioden und Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der Entwicklungsgang der Staten und der statlichen Institutionen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/39>, abgerufen am 25.04.2024.