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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
die wahren Oberhäupter des States verehrt, so war mit
diesem Glauben der überwiegende Einflusz der Priester
unzertrennlich verbunden, denn diese waren die auserwählten
Sterblichen, welche vorzugsweise dem Dienste der Götter
geweiht waren, ihren Willen vernahmen und ihre Sprache
verstanden. Unter diesen Völkern haben daher auch die
Priester den obersten Rang. In den einen verwalten die
Priester geradezu das Regiment, im Namen Gottes oder
der Götter, in den andern stehen zwar Könige an der Spitze
der Regierung, aber auch sie regieren nicht in eigenem
Namen, sondern als Stellvertreter und Organe der Götter
und sind entweder zugleich Oberpriester oder werden durch
den Einflusz der Priester geleitet und beschränkt. Die
erstern können wir nach Leo's Vorgang reine, die letztern
gebrochene Priesterstaten nennen. In diesen ist der
Uebergang von der Form der Theokratie in die der Monarchie
ersichtlich.

Ein solcher Priesterstat war der Stat der Aethiopen
in Meroe. Der Vorstand des States gehört der Priester-
kaste an. Die Priester bezeichnen aus ihrer Mitte einige
der Besten, aus welchen in feierlicher Procession der Gott
einen erwählt. Ist der Ausspruch des Gottes gethan, so
beugt das Volk vor dem Erwählten Gottes seine Kniee, und
verehrt in ihm den Stellvertreter Gottes. Seine Macht aber
ist in jeder Weise beschränkt durch die göttlichen Gesetze,
und die fortdauernde Offenbarung des göttlichen Willens in
den Orakeln, welche die Priester vermitteln. Ein strenges
Ceremoniel ordnet jeden seiner Schritte, und der freien
menschlichen Entschlieszung ist kein Spielraum vergönnt.
Ueberall begleiten ihn die Priester und wirken mit, und
selbst seine Existenz ist völlig unsicher. Wenn er dem
Gotte miszfällt, so offenbart dieser den Priestern seine Un-
gnade. Die Priester theilen ihm durch eine Botschaft den
zürnenden Willen des Gottes mit, und es bleibt ihm nichts

Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
die wahren Oberhäupter des States verehrt, so war mit
diesem Glauben der überwiegende Einflusz der Priester
unzertrennlich verbunden, denn diese waren die auserwählten
Sterblichen, welche vorzugsweise dem Dienste der Götter
geweiht waren, ihren Willen vernahmen und ihre Sprache
verstanden. Unter diesen Völkern haben daher auch die
Priester den obersten Rang. In den einen verwalten die
Priester geradezu das Regiment, im Namen Gottes oder
der Götter, in den andern stehen zwar Könige an der Spitze
der Regierung, aber auch sie regieren nicht in eigenem
Namen, sondern als Stellvertreter und Organe der Götter
und sind entweder zugleich Oberpriester oder werden durch
den Einflusz der Priester geleitet und beschränkt. Die
erstern können wir nach Leo's Vorgang reine, die letztern
gebrochene Priesterstaten nennen. In diesen ist der
Uebergang von der Form der Theokratie in die der Monarchie
ersichtlich.

Ein solcher Priesterstat war der Stat der Aethiopen
in Meroë. Der Vorstand des States gehört der Priester-
kaste an. Die Priester bezeichnen aus ihrer Mitte einige
der Besten, aus welchen in feierlicher Procession der Gott
einen erwählt. Ist der Ausspruch des Gottes gethan, so
beugt das Volk vor dem Erwählten Gottes seine Kniee, und
verehrt in ihm den Stellvertreter Gottes. Seine Macht aber
ist in jeder Weise beschränkt durch die göttlichen Gesetze,
und die fortdauernde Offenbarung des göttlichen Willens in
den Orakeln, welche die Priester vermitteln. Ein strenges
Ceremoniel ordnet jeden seiner Schritte, und der freien
menschlichen Entschlieszung ist kein Spielraum vergönnt.
Ueberall begleiten ihn die Priester und wirken mit, und
selbst seine Existenz ist völlig unsicher. Wenn er dem
Gotte miszfällt, so offenbart dieser den Priestern seine Un-
gnade. Die Priester theilen ihm durch eine Botschaft den
zürnenden Willen des Gottes mit, und es bleibt ihm nichts

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[387/0405] Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie. die wahren Oberhäupter des States verehrt, so war mit diesem Glauben der überwiegende Einflusz der Priester unzertrennlich verbunden, denn diese waren die auserwählten Sterblichen, welche vorzugsweise dem Dienste der Götter geweiht waren, ihren Willen vernahmen und ihre Sprache verstanden. Unter diesen Völkern haben daher auch die Priester den obersten Rang. In den einen verwalten die Priester geradezu das Regiment, im Namen Gottes oder der Götter, in den andern stehen zwar Könige an der Spitze der Regierung, aber auch sie regieren nicht in eigenem Namen, sondern als Stellvertreter und Organe der Götter und sind entweder zugleich Oberpriester oder werden durch den Einflusz der Priester geleitet und beschränkt. Die erstern können wir nach Leo's Vorgang reine, die letztern gebrochene Priesterstaten nennen. In diesen ist der Uebergang von der Form der Theokratie in die der Monarchie ersichtlich. Ein solcher Priesterstat war der Stat der Aethiopen in Meroë. Der Vorstand des States gehört der Priester- kaste an. Die Priester bezeichnen aus ihrer Mitte einige der Besten, aus welchen in feierlicher Procession der Gott einen erwählt. Ist der Ausspruch des Gottes gethan, so beugt das Volk vor dem Erwählten Gottes seine Kniee, und verehrt in ihm den Stellvertreter Gottes. Seine Macht aber ist in jeder Weise beschränkt durch die göttlichen Gesetze, und die fortdauernde Offenbarung des göttlichen Willens in den Orakeln, welche die Priester vermitteln. Ein strenges Ceremoniel ordnet jeden seiner Schritte, und der freien menschlichen Entschlieszung ist kein Spielraum vergönnt. Ueberall begleiten ihn die Priester und wirken mit, und selbst seine Existenz ist völlig unsicher. Wenn er dem Gotte miszfällt, so offenbart dieser den Priestern seine Un- gnade. Die Priester theilen ihm durch eine Botschaft den zürnenden Willen des Gottes mit, und es bleibt ihm nichts

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/405>, abgerufen am 25.04.2024.