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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.

Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung
zusammen, so läszt sich der allgemeine Begriff des States
so bestimmen: Der Stat ist eine Gesammtheit von Menschen,
in der Form von Regierung und Regierten auf einem be-
stimmten Gebiete verbunden zu einer sittlich-organischen,
männlichen Persönlichkeit. Oder kürzer ausgedrückt: Der
Stat ist die politisch organisirte Volksperson eines
bestimmten Landes
.

Anmerkungen. 1. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die
verschiedenen Völker den Stat benannt haben. Die Griechen noch
bezeichneten Stadt und Stat mit dem nämlichen Wort (polis), zum
Zeichen, dasz ihr Begriff vom Stat auf die Stadt gegründet und durch
den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische
Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin,
als den Kern des States, aber ist persönlicher gehalten als das griechi-
sche Wort, und eher geeignet, gröszere Volksmassen in sich aufzu-
nehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des States,
dasz der Ausdruck Civilisation von dem Namen des Stats abgeleitet
ist, und practisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des States
zusammenfällt.

In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica
noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht blosz
auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt
(res populi), und die Rücksicht auf Volkswohlfahrt darin enthalten ist.
Im Sinne der Alten schlieszt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht
aus, paszt aber nicht auf despotisch geartete Staten.

In den modernen Sprachen hat nicht blosz unter den Romanen, son-
dern eben so unter den Germanen der Ausdruck Stat (stato, etat, state)
überhand genommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprüng-
lich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich status rei
publicae, um eine nähere Beziehung zu dem State zu erlangen) ist die-
ser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei
Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifel-
haften Bezeichnung des States geworden. Obwohl darin das Feste, was
steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Ver-
gessenheit gerathen, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende
Statsordnung und Statsverfassung (politeia), sondern den Stat, welcher
auch einige völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann.

Alle andern modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Gel-
tung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf grosze Staten paszt,
die überdem monarchisch organisirt, auch wohl aus mehreren beziehungs-

Erstes Buch. Der Statsbegriff.

Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung
zusammen, so läszt sich der allgemeine Begriff des States
so bestimmen: Der Stat ist eine Gesammtheit von Menschen,
in der Form von Regierung und Regierten auf einem be-
stimmten Gebiete verbunden zu einer sittlich-organischen,
männlichen Persönlichkeit. Oder kürzer ausgedrückt: Der
Stat ist die politisch organisirte Volksperson eines
bestimmten Landes
.

Anmerkungen. 1. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die
verschiedenen Völker den Stat benannt haben. Die Griechen noch
bezeichneten Stadt und Stat mit dem nämlichen Wort (πόλις), zum
Zeichen, dasz ihr Begriff vom Stat auf die Stadt gegründet und durch
den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische
Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin,
als den Kern des States, aber ist persönlicher gehalten als das griechi-
sche Wort, und eher geeignet, gröszere Volksmassen in sich aufzu-
nehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des States,
dasz der Ausdruck Civilisation von dem Namen des Stats abgeleitet
ist, und practisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des States
zusammenfällt.

In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica
noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht blosz
auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt
(res populi), und die Rücksicht auf Volkswohlfahrt darin enthalten ist.
Im Sinne der Alten schlieszt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht
aus, paszt aber nicht auf despotisch geartete Staten.

In den modernen Sprachen hat nicht blosz unter den Romanen, son-
dern eben so unter den Germanen der Ausdruck Stat (stato, état, state)
überhand genommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprüng-
lich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich status rei
publicae, um eine nähere Beziehung zu dem State zu erlangen) ist die-
ser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei
Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifel-
haften Bezeichnung des States geworden. Obwohl darin das Feste, was
steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Ver-
gessenheit gerathen, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende
Statsordnung und Statsverfassung (πολιτεία), sondern den Stat, welcher
auch einige völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann.

Alle andern modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Gel-
tung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf grosze Staten paszt,
die überdem monarchisch organisirt, auch wohl aus mehreren beziehungs-

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[24/0042] Erstes Buch. Der Statsbegriff. Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung zusammen, so läszt sich der allgemeine Begriff des States so bestimmen: Der Stat ist eine Gesammtheit von Menschen, in der Form von Regierung und Regierten auf einem be- stimmten Gebiete verbunden zu einer sittlich-organischen, männlichen Persönlichkeit. Oder kürzer ausgedrückt: Der Stat ist die politisch organisirte Volksperson eines bestimmten Landes. Anmerkungen. 1. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die verschiedenen Völker den Stat benannt haben. Die Griechen noch bezeichneten Stadt und Stat mit dem nämlichen Wort (πόλις), zum Zeichen, dasz ihr Begriff vom Stat auf die Stadt gegründet und durch den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin, als den Kern des States, aber ist persönlicher gehalten als das griechi- sche Wort, und eher geeignet, gröszere Volksmassen in sich aufzu- nehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des States, dasz der Ausdruck Civilisation von dem Namen des Stats abgeleitet ist, und practisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des States zusammenfällt. In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht blosz auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt (res populi), und die Rücksicht auf Volkswohlfahrt darin enthalten ist. Im Sinne der Alten schlieszt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht aus, paszt aber nicht auf despotisch geartete Staten. In den modernen Sprachen hat nicht blosz unter den Romanen, son- dern eben so unter den Germanen der Ausdruck Stat (stato, état, state) überhand genommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprüng- lich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich status rei publicae, um eine nähere Beziehung zu dem State zu erlangen) ist die- ser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifel- haften Bezeichnung des States geworden. Obwohl darin das Feste, was steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Ver- gessenheit gerathen, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende Statsordnung und Statsverfassung (πολιτεία), sondern den Stat, welcher auch einige völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann. Alle andern modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Gel- tung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf grosze Staten paszt, die überdem monarchisch organisirt, auch wohl aus mehreren beziehungs-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/42>, abgerufen am 16.04.2024.