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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur
und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die
Nation.

Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser
Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern
Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen
Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles
schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: "Der
Mensch ist ein von Natur statliches Wesen
" (phusei
politikon zoon). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht
ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die
gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or-
ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir
die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr
verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein
gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen,
dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie
Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des
Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos-
sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere
Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind.
Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen,
ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk
untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit
ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be-
seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen
Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?

Die national beschränkten Staten haben daher nur eine
relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen
noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm
ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche
Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der
in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn
Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur
und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die
Nation.

Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser
Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern
Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen
Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles
schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „Der
Mensch ist ein von Natur statliches Wesen
“ (φύσει
πολιτιϰὸν ζῶον). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht
ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die
gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or-
ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir
die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr
verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein
gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen,
dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie
Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des
Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos-
sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere
Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind.
Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen,
ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk
untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit
ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be-
seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen
Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?

Die national beschränkten Staten haben daher nur eine
relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen
noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm
ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche
Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der
in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn
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[26/0044] Erstes Buch. Der Statsbegriff. der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die Nation. Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „Der Mensch ist ein von Natur statliches Wesen“ (φύσει πολιτιϰὸν ζῶον). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or- ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen, dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos- sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind. Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen, ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be- seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen? Die national beschränkten Staten haben daher nur eine relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/44>, abgerufen am 19.04.2024.