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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Auch auf der Erde in den Schicksalen und Leiden der
Völker wird diese Verantwortlichkeit nicht selten schmerzlich
empfunden. Aber es ist unmöglich, innerhalb eines States
ein Gericht zu bestellen, vor welchem die Gesammtheit des
Volkes selbst, oder seine Stellvertretung als Inhaber der ober-
sten Statsmacht zur Rechenschaft gezogen werden können.
Würde das versucht, so wäre insofern wenigstens der Stat
selbst dem Gerichte unterthänig, und so das Glied über den
Körper, der Theil über das Ganze geordnet.

Würde aber ein Stat für die Ausübung seiner Statssou-
veränetät einem andern State verantwortlich sein, so wäre
seine Souveränetät eben deszhalb eine beschränkte, und
der Oberhoheit des richtenden Stats untergeordnete.

Nur durch Ausbildung des Völkerrechts, beziehungs-
weise einer höhern statlichen Weltordnung, vor welcher
die einzelnen souveränen Staten sich beugen müszten als
einem Gesammtreiche, könnte die statliche Verantwortlichkeit
der Einzelstaten auch rechtlich organisirt werden. Vielleicht
ist es der Zukunft vorbehalten, diese Idee zu verwirklichen.
In der Gegenwart kann sie nur als Idee geahnt, oder erkannt
werden; aber zum realen Rechte ist dieselbe noch nicht ge-
worden.

7. Alle besondern Statsgewalten sind hinwieder den Or-
ganen der Statssouveränetät verantwortlich. Sie läszt sich
von den Ministern und obersten Statsbeamten Rechenschaft
geben über die Verwaltung.

Anmerkung. Die constituirenden Versammlungen der
neuern Zeit haben nach dem Vorgange der französischen Nationalver-

stützung behauptet, dasz das Volk niemals unrecht habe; ich habe diese
Wahrheit in einer Zeit zu verkünden gewagt, als sie noch nicht aner-
kannt war; der Lauf der Revolution hat dieselbe entwickelt." Aber das
französische Volk hat die schweren Folgen seiner Verirrungen mit groszem
und nachhaltigem Unglück büszen müssen, und die Geschichte hat über
dasselbe ein ernstes Strafgericht gehalten.

Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Auch auf der Erde in den Schicksalen und Leiden der
Völker wird diese Verantwortlichkeit nicht selten schmerzlich
empfunden. Aber es ist unmöglich, innerhalb eines States
ein Gericht zu bestellen, vor welchem die Gesammtheit des
Volkes selbst, oder seine Stellvertretung als Inhaber der ober-
sten Statsmacht zur Rechenschaft gezogen werden können.
Würde das versucht, so wäre insofern wenigstens der Stat
selbst dem Gerichte unterthänig, und so das Glied über den
Körper, der Theil über das Ganze geordnet.

Würde aber ein Stat für die Ausübung seiner Statssou-
veränetät einem andern State verantwortlich sein, so wäre
seine Souveränetät eben deszhalb eine beschränkte, und
der Oberhoheit des richtenden Stats untergeordnete.

Nur durch Ausbildung des Völkerrechts, beziehungs-
weise einer höhern statlichen Weltordnung, vor welcher
die einzelnen souveränen Staten sich beugen müszten als
einem Gesammtreiche, könnte die statliche Verantwortlichkeit
der Einzelstaten auch rechtlich organisirt werden. Vielleicht
ist es der Zukunft vorbehalten, diese Idee zu verwirklichen.
In der Gegenwart kann sie nur als Idee geahnt, oder erkannt
werden; aber zum realen Rechte ist dieselbe noch nicht ge-
worden.

7. Alle besondern Statsgewalten sind hinwieder den Or-
ganen der Statssouveränetät verantwortlich. Sie läszt sich
von den Ministern und obersten Statsbeamten Rechenschaft
geben über die Verwaltung.

Anmerkung. Die constituirenden Versammlungen der
neuern Zeit haben nach dem Vorgange der französischen Nationalver-

stützung behauptet, dasz das Volk niemals unrecht habe; ich habe diese
Wahrheit in einer Zeit zu verkünden gewagt, als sie noch nicht aner-
kannt war; der Lauf der Revolution hat dieselbe entwickelt.“ Aber das
französische Volk hat die schweren Folgen seiner Verirrungen mit groszem
und nachhaltigem Unglück büszen müssen, und die Geschichte hat über
dasselbe ein ernstes Strafgericht gehalten.
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[580/0598] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. Auch auf der Erde in den Schicksalen und Leiden der Völker wird diese Verantwortlichkeit nicht selten schmerzlich empfunden. Aber es ist unmöglich, innerhalb eines States ein Gericht zu bestellen, vor welchem die Gesammtheit des Volkes selbst, oder seine Stellvertretung als Inhaber der ober- sten Statsmacht zur Rechenschaft gezogen werden können. Würde das versucht, so wäre insofern wenigstens der Stat selbst dem Gerichte unterthänig, und so das Glied über den Körper, der Theil über das Ganze geordnet. Würde aber ein Stat für die Ausübung seiner Statssou- veränetät einem andern State verantwortlich sein, so wäre seine Souveränetät eben deszhalb eine beschränkte, und der Oberhoheit des richtenden Stats untergeordnete. Nur durch Ausbildung des Völkerrechts, beziehungs- weise einer höhern statlichen Weltordnung, vor welcher die einzelnen souveränen Staten sich beugen müszten als einem Gesammtreiche, könnte die statliche Verantwortlichkeit der Einzelstaten auch rechtlich organisirt werden. Vielleicht ist es der Zukunft vorbehalten, diese Idee zu verwirklichen. In der Gegenwart kann sie nur als Idee geahnt, oder erkannt werden; aber zum realen Rechte ist dieselbe noch nicht ge- worden. 7. Alle besondern Statsgewalten sind hinwieder den Or- ganen der Statssouveränetät verantwortlich. Sie läszt sich von den Ministern und obersten Statsbeamten Rechenschaft geben über die Verwaltung. Anmerkung. Die constituirenden Versammlungen der neuern Zeit haben nach dem Vorgange der französischen Nationalver- 5 5 stützung behauptet, dasz das Volk niemals unrecht habe; ich habe diese Wahrheit in einer Zeit zu verkünden gewagt, als sie noch nicht aner- kannt war; der Lauf der Revolution hat dieselbe entwickelt.“ Aber das französische Volk hat die schweren Folgen seiner Verirrungen mit groszem und nachhaltigem Unglück büszen müssen, und die Geschichte hat über dasselbe ein ernstes Strafgericht gehalten.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/598>, abgerufen am 25.04.2024.