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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.
a) in der Unabhängigkeit desselben von einem fremden State und
in der Ablehnung jeder fremden Statshandlung auf seinem
Gebiet;
b) in der Freiheit desselben, ohne Behinderung fremder Staten
seinen eigenen Statswillen selbst zu bestimmen und nach eigenem
Ermessen zu äußern und zu bethätigen.

Die Souveränetät ist zunächst wieder ein statsrechtlicher Begriff und bedeutet
die Statsgewalt in höchster Potenz und in oberster Instanz. Die
völkerrechtliche Bedeutung derselben tritt erst hervor im Verhältniß zu fremden
Staten.

65.

Souveränetät heißt nicht absolute Unabhängigkeit noch absolute Frei-
heit eines States, denn die Staten sind keine absoluten Wesen, sondern
rechtlich beschränkte Personen.

Der Begriff der Souveränetät ist zuerst in Frankreich und zwar in der Zeit
ausgebildet worden, als das französische Königthum alle Statsgewalt in möglichst
absolutem Sinne in seiner Hand zu concentriren unternahm, im Gegensatze zu den
Beschränkungen der mittelalterlichen ständischen Rechte und der Lehensverfassung.
Seither ist eine gewisse Tendenz zum Absolutismus in dem Worte verblieben, die
schwer auszumerzen ist. Dennoch widerspricht dieser Absolutismus sowohl der Rechts-
natur des modernen Verfassungsstates als der völkerrechtlichen Gemeinordnung.

66.

Jeder Stat darf nur in dem Maße Unabhängigkeit und Freiheit
für sich ansprechen, als sich mit der nothwendigen menschlichen Weltordnung,
mit der Selbständigkeit der andern Staten und mit der Verbindung aller
Staten verträgt.

Das Völkerrecht erhält aber beschränkt zugleich die Souveränetät der Einzel-
staten, weil es das friedliche Nebeneinander sämmtlicher Staten schützt und auch den
Krieg durch Rechtsvorschriften civilisirt. Gegen das Völkerrecht kann sich kein Stat
auf seine Souveränetät berufen, weil die Grundlage des Völkerrechts nicht die Will-
kür der Staten sondern die Gemeinschaft der Menschheit ist.

67.

Innerhalb der völkerrechtlichen Schranken spricht die Rechtsver-
muthung für volle und ungetheilte Souveränetät eines jeden States.

Die Souveränetät ist die selbstverständliche Eigenschaft des wirklichen States,
d. h. eines Gemeinwesens, das sich selbst regiert. Hoheit und Einheit sind mit dem

Zweites Buch.
a) in der Unabhängigkeit desſelben von einem fremden State und
in der Ablehnung jeder fremden Statshandlung auf ſeinem
Gebiet;
b) in der Freiheit desſelben, ohne Behinderung fremder Staten
ſeinen eigenen Statswillen ſelbſt zu beſtimmen und nach eigenem
Ermeſſen zu äußern und zu bethätigen.

Die Souveränetät iſt zunächſt wieder ein ſtatsrechtlicher Begriff und bedeutet
die Statsgewalt in höchſter Potenz und in oberſter Inſtanz. Die
völkerrechtliche Bedeutung derſelben tritt erſt hervor im Verhältniß zu fremden
Staten.

65.

Souveränetät heißt nicht abſolute Unabhängigkeit noch abſolute Frei-
heit eines States, denn die Staten ſind keine abſoluten Weſen, ſondern
rechtlich beſchränkte Perſonen.

Der Begriff der Souveränetät iſt zuerſt in Frankreich und zwar in der Zeit
ausgebildet worden, als das franzöſiſche Königthum alle Statsgewalt in möglichſt
abſolutem Sinne in ſeiner Hand zu concentriren unternahm, im Gegenſatze zu den
Beſchränkungen der mittelalterlichen ſtändiſchen Rechte und der Lehensverfaſſung.
Seither iſt eine gewiſſe Tendenz zum Abſolutismus in dem Worte verblieben, die
ſchwer auszumerzen iſt. Dennoch widerſpricht dieſer Abſolutismus ſowohl der Rechts-
natur des modernen Verfaſſungsſtates als der völkerrechtlichen Gemeinordnung.

66.

Jeder Stat darf nur in dem Maße Unabhängigkeit und Freiheit
für ſich anſprechen, als ſich mit der nothwendigen menſchlichen Weltordnung,
mit der Selbſtändigkeit der andern Staten und mit der Verbindung aller
Staten verträgt.

Das Völkerrecht erhält aber beſchränkt zugleich die Souveränetät der Einzel-
ſtaten, weil es das friedliche Nebeneinander ſämmtlicher Staten ſchützt und auch den
Krieg durch Rechtsvorſchriften civiliſirt. Gegen das Völkerrecht kann ſich kein Stat
auf ſeine Souveränetät berufen, weil die Grundlage des Völkerrechts nicht die Will-
kür der Staten ſondern die Gemeinſchaft der Menſchheit iſt.

67.

Innerhalb der völkerrechtlichen Schranken ſpricht die Rechtsver-
muthung für volle und ungetheilte Souveränetät eines jeden States.

Die Souveränetät iſt die ſelbſtverſtändliche Eigenſchaft des wirklichen States,
d. h. eines Gemeinweſens, das ſich ſelbſt regiert. Hoheit und Einheit ſind mit dem

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[84/0106] Zweites Buch. a) in der Unabhängigkeit desſelben von einem fremden State und in der Ablehnung jeder fremden Statshandlung auf ſeinem Gebiet; b) in der Freiheit desſelben, ohne Behinderung fremder Staten ſeinen eigenen Statswillen ſelbſt zu beſtimmen und nach eigenem Ermeſſen zu äußern und zu bethätigen. Die Souveränetät iſt zunächſt wieder ein ſtatsrechtlicher Begriff und bedeutet die Statsgewalt in höchſter Potenz und in oberſter Inſtanz. Die völkerrechtliche Bedeutung derſelben tritt erſt hervor im Verhältniß zu fremden Staten. 65. Souveränetät heißt nicht abſolute Unabhängigkeit noch abſolute Frei- heit eines States, denn die Staten ſind keine abſoluten Weſen, ſondern rechtlich beſchränkte Perſonen. Der Begriff der Souveränetät iſt zuerſt in Frankreich und zwar in der Zeit ausgebildet worden, als das franzöſiſche Königthum alle Statsgewalt in möglichſt abſolutem Sinne in ſeiner Hand zu concentriren unternahm, im Gegenſatze zu den Beſchränkungen der mittelalterlichen ſtändiſchen Rechte und der Lehensverfaſſung. Seither iſt eine gewiſſe Tendenz zum Abſolutismus in dem Worte verblieben, die ſchwer auszumerzen iſt. Dennoch widerſpricht dieſer Abſolutismus ſowohl der Rechts- natur des modernen Verfaſſungsſtates als der völkerrechtlichen Gemeinordnung. 66. Jeder Stat darf nur in dem Maße Unabhängigkeit und Freiheit für ſich anſprechen, als ſich mit der nothwendigen menſchlichen Weltordnung, mit der Selbſtändigkeit der andern Staten und mit der Verbindung aller Staten verträgt. Das Völkerrecht erhält aber beſchränkt zugleich die Souveränetät der Einzel- ſtaten, weil es das friedliche Nebeneinander ſämmtlicher Staten ſchützt und auch den Krieg durch Rechtsvorſchriften civiliſirt. Gegen das Völkerrecht kann ſich kein Stat auf ſeine Souveränetät berufen, weil die Grundlage des Völkerrechts nicht die Will- kür der Staten ſondern die Gemeinſchaft der Menſchheit iſt. 67. Innerhalb der völkerrechtlichen Schranken ſpricht die Rechtsver- muthung für volle und ungetheilte Souveränetät eines jeden States. Die Souveränetät iſt die ſelbſtverſtändliche Eigenſchaft des wirklichen States, d. h. eines Gemeinweſens, das ſich ſelbſt regiert. Hoheit und Einheit ſind mit dem

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/106>, abgerufen am 19.04.2024.