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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Drittes Buch.
State zukommende Ehre, Würde und Rangstellung in Anspruch zu nehmen
und den entsprechenden Titel zu führen.

Die Verweigerung solcher Titel wird mit Grund als eine Beleidigung betrach-
tet, wenn erst die neue Regierung sich als unzweifelhaft wirkliche Regierung betrachten
darf. Schon die leise Mißachtung, welche Napoleon III. von Kaiser Nikolaus
erfuhr, als dieser in seinem Schreiben den üblichen Brudernamen (mon frere) unter-
ließ, ist von dem Erstern schwer empfunden und gerächt worden: und doch ließ sich
da von keiner Rechtsverletzung sprechen, sondern höchstens von einem Verstoß gegen
die höfische Sitte, denn es war darin Napoleon ausdrücklich als wirkliches Statshaupt
der Franzosen anerkannt worden.

125.

Die diplomatische Sitte fordert, daß die in regelmäßigem Verkehr
mit einander befindlichen Staten einander jeden Personenwechsel in dem
Statshaupt anzeigen. Die Unterlassung oder Verschiebung dieser Anzeige
ist indessen nicht als Rechtsverletzung zu betrachten und hat keine Aende-
rung der Rechtsverhältnisse zur Folge.

Zuweilen wird die Anzeige aus dem Grunde aufgeschoben oder vermieden,
um unangenehme Erörterungen über die Rechtmäßigkeit der Aenderung zu vermeiden
und die stille Heilung der Zeit nicht zu stören. In dieser Weise verfuhr die neue
Regierung des Königreichs Italien 1862/64 mit einer wohlberechneten Zurück-
haltung, um nicht die deutschen Staten zu feindseligen Gegenäußerungen zu veran-
lassen und nicht der österreichischen Politik, welche dem neuen Stat die Anerkennung
verweigerte, willkommenen Anlaß zu Demonstrationen zu geben.

2. Die Statshäupter als souveräne Personen.
126.

Die Frage, ob dem jeweiligen Statshaupt auch persönliche Souve-
ränetät zukomme oder nicht, ist zunächst wieder eine Frage des Statsrechts,
nicht des Völkerrechts.

In der Regel wird diese Frage in den heutigen Monarchien bejaht,
und in den heutigen Republiken verneint. Der Fürst wird als eine souve-
räne Person betrachtet, der republikanische Präsident nicht. Das war nicht immer
so und ist nicht nothwendig so. Die alt-römischen Consuln galten nicht minder als
souveräne Personen als die Könige der andern Völker; und zwischen den erblichen
Reichsfürsten des Mittelalters und dem gewählten Dogen der Republik Venedig
wurde in dieser Hinsicht kein Unterschied gemacht. Der Grund, weßhalb die heutigen

Drittes Buch.
State zukommende Ehre, Würde und Rangſtellung in Anſpruch zu nehmen
und den entſprechenden Titel zu führen.

Die Verweigerung ſolcher Titel wird mit Grund als eine Beleidigung betrach-
tet, wenn erſt die neue Regierung ſich als unzweifelhaft wirkliche Regierung betrachten
darf. Schon die leiſe Mißachtung, welche Napoleon III. von Kaiſer Nikolaus
erfuhr, als dieſer in ſeinem Schreiben den üblichen Brudernamen (mon frère) unter-
ließ, iſt von dem Erſtern ſchwer empfunden und gerächt worden: und doch ließ ſich
da von keiner Rechtsverletzung ſprechen, ſondern höchſtens von einem Verſtoß gegen
die höfiſche Sitte, denn es war darin Napoleon ausdrücklich als wirkliches Statshaupt
der Franzoſen anerkannt worden.

125.

Die diplomatiſche Sitte fordert, daß die in regelmäßigem Verkehr
mit einander befindlichen Staten einander jeden Perſonenwechſel in dem
Statshaupt anzeigen. Die Unterlaſſung oder Verſchiebung dieſer Anzeige
iſt indeſſen nicht als Rechtsverletzung zu betrachten und hat keine Aende-
rung der Rechtsverhältniſſe zur Folge.

Zuweilen wird die Anzeige aus dem Grunde aufgeſchoben oder vermieden,
um unangenehme Erörterungen über die Rechtmäßigkeit der Aenderung zu vermeiden
und die ſtille Heilung der Zeit nicht zu ſtören. In dieſer Weiſe verfuhr die neue
Regierung des Königreichs Italien 1862/64 mit einer wohlberechneten Zurück-
haltung, um nicht die deutſchen Staten zu feindſeligen Gegenäußerungen zu veran-
laſſen und nicht der öſterreichiſchen Politik, welche dem neuen Stat die Anerkennung
verweigerte, willkommenen Anlaß zu Demonſtrationen zu geben.

2. Die Statshäupter als ſouveräne Perſonen.
126.

Die Frage, ob dem jeweiligen Statshaupt auch perſönliche Souve-
ränetät zukomme oder nicht, iſt zunächſt wieder eine Frage des Statsrechts,
nicht des Völkerrechts.

In der Regel wird dieſe Frage in den heutigen Monarchien bejaht,
und in den heutigen Republiken verneint. Der Fürſt wird als eine ſouve-
räne Perſon betrachtet, der republikaniſche Präſident nicht. Das war nicht immer
ſo und iſt nicht nothwendig ſo. Die alt-römiſchen Conſuln galten nicht minder als
ſouveräne Perſonen als die Könige der andern Völker; und zwiſchen den erblichen
Reichsfürſten des Mittelalters und dem gewählten Dogen der Republik Venedig
wurde in dieſer Hinſicht kein Unterſchied gemacht. Der Grund, weßhalb die heutigen

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[112/0134] Drittes Buch. State zukommende Ehre, Würde und Rangſtellung in Anſpruch zu nehmen und den entſprechenden Titel zu führen. Die Verweigerung ſolcher Titel wird mit Grund als eine Beleidigung betrach- tet, wenn erſt die neue Regierung ſich als unzweifelhaft wirkliche Regierung betrachten darf. Schon die leiſe Mißachtung, welche Napoleon III. von Kaiſer Nikolaus erfuhr, als dieſer in ſeinem Schreiben den üblichen Brudernamen (mon frère) unter- ließ, iſt von dem Erſtern ſchwer empfunden und gerächt worden: und doch ließ ſich da von keiner Rechtsverletzung ſprechen, ſondern höchſtens von einem Verſtoß gegen die höfiſche Sitte, denn es war darin Napoleon ausdrücklich als wirkliches Statshaupt der Franzoſen anerkannt worden. 125. Die diplomatiſche Sitte fordert, daß die in regelmäßigem Verkehr mit einander befindlichen Staten einander jeden Perſonenwechſel in dem Statshaupt anzeigen. Die Unterlaſſung oder Verſchiebung dieſer Anzeige iſt indeſſen nicht als Rechtsverletzung zu betrachten und hat keine Aende- rung der Rechtsverhältniſſe zur Folge. Zuweilen wird die Anzeige aus dem Grunde aufgeſchoben oder vermieden, um unangenehme Erörterungen über die Rechtmäßigkeit der Aenderung zu vermeiden und die ſtille Heilung der Zeit nicht zu ſtören. In dieſer Weiſe verfuhr die neue Regierung des Königreichs Italien 1862/64 mit einer wohlberechneten Zurück- haltung, um nicht die deutſchen Staten zu feindſeligen Gegenäußerungen zu veran- laſſen und nicht der öſterreichiſchen Politik, welche dem neuen Stat die Anerkennung verweigerte, willkommenen Anlaß zu Demonſtrationen zu geben. 2. Die Statshäupter als ſouveräne Perſonen. 126. Die Frage, ob dem jeweiligen Statshaupt auch perſönliche Souve- ränetät zukomme oder nicht, iſt zunächſt wieder eine Frage des Statsrechts, nicht des Völkerrechts. In der Regel wird dieſe Frage in den heutigen Monarchien bejaht, und in den heutigen Republiken verneint. Der Fürſt wird als eine ſouve- räne Perſon betrachtet, der republikaniſche Präſident nicht. Das war nicht immer ſo und iſt nicht nothwendig ſo. Die alt-römiſchen Conſuln galten nicht minder als ſouveräne Perſonen als die Könige der andern Völker; und zwiſchen den erblichen Reichsfürſten des Mittelalters und dem gewählten Dogen der Republik Venedig wurde in dieſer Hinſicht kein Unterſchied gemacht. Der Grund, weßhalb die heutigen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/134>, abgerufen am 24.04.2024.