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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Viertes Buch.
len der Flüsse her allmählich das Statsgebiet sich über deren Gebiet und bis an die
Mündung ausgedehnt hat. Von den Quellen des Indus und Ganges her ist
die alte indisch-arische Eroberung allmählich vorgedrungen bis ans Meer. Am
Oberrhein setzten sich die alten Germanen früher fest, als an den Ausläufen des
Rheins ins Meer und der österreichisch-ungarische Donaustat ist nicht im Besitz
der Sulinamündungen. Die Behauptung englischer Publicisten und Statsmänner,
daß England im Besitz der amerikanischen Seeküste auch eine Herrschaft habe über
den ganzen nördlichen Continent Amerikas, von Meer zu Meer, war
offenbar phantastisch übertrieben und wurde von den andern colonisirenden Mächten
auch nicht anerkannt.

283.

Wenn zwei Staten von zwei benachbarten Punkten aus sich coloni-
sirend festsetzen und statlichen Besitz ergreifen und nicht durch die Rücksicht
auf den natürlichen innern Zusammenhang zweier verschiedener Flußgebiete
und eine Bergscheide ihre Gebiete sich naturgemäß unterscheiden, so wird
eine mittlere Linie zwischen den beiden Gebieten als Grenze angenommen.

Vgl. Phillimore a. a. O. Selbstverständlich kann vertragsmäßig auch
eine andere Grenzlinie verabredet werden.

284.

Das Statsgebiet ist in der Regel unveräußerlich und untheilbar.

Die Veräußerlichkeit und die Theilbarkeit des Statsgebiets wider-
streitet der organischen Natur der Dauerhaftigkeit und der Einheit des Stats. Weil
das Statsbewußtsein im Mittelalter wenig ausgebildet war und das Statsgebiet
wie ein im Eigenthum des Landesherrn befindliches Grundstück betrachtet wurde, so
meinte man damals Territorien, wie Landgüter verkaufen und unter mehrere Erben
vertheilen zu dürfen. Freilich schon damals suchten die Stände oft solchen Uebeln
durch Verträge zu begegnen, welche sie mit den Fürsten abschlossen. Aber nur all-
mählich ist die richtige Regel erkannt und in das allgemeine Statsrecht der neuern
Zeit aufgenommen worden.

285.

Ausnahmsweise kann ein Stat einen Theil seines Gebiets aus poli-
tischen Gründen und in öffentlich-rechtlicher Form an einen andern Stat
abtreten.

Es ist das nicht eine sachliche, dem Privatverkehr entlehnte Veräußerung,
sondern eine statliche, in Inhalt und Form öffentlich-rechtliche Abtretung. Am

Viertes Buch.
len der Flüſſe her allmählich das Statsgebiet ſich über deren Gebiet und bis an die
Mündung ausgedehnt hat. Von den Quellen des Indus und Ganges her iſt
die alte indiſch-ariſche Eroberung allmählich vorgedrungen bis ans Meer. Am
Oberrhein ſetzten ſich die alten Germanen früher feſt, als an den Ausläufen des
Rheins ins Meer und der öſterreichiſch-ungariſche Donauſtat iſt nicht im Beſitz
der Sulinamündungen. Die Behauptung engliſcher Publiciſten und Statsmänner,
daß England im Beſitz der amerikaniſchen Seeküſte auch eine Herrſchaft habe über
den ganzen nördlichen Continent Amerikas, von Meer zu Meer, war
offenbar phantaſtiſch übertrieben und wurde von den andern coloniſirenden Mächten
auch nicht anerkannt.

283.

Wenn zwei Staten von zwei benachbarten Punkten aus ſich coloni-
ſirend feſtſetzen und ſtatlichen Beſitz ergreifen und nicht durch die Rückſicht
auf den natürlichen innern Zuſammenhang zweier verſchiedener Flußgebiete
und eine Bergſcheide ihre Gebiete ſich naturgemäß unterſcheiden, ſo wird
eine mittlere Linie zwiſchen den beiden Gebieten als Grenze angenommen.

Vgl. Phillimore a. a. O. Selbſtverſtändlich kann vertragsmäßig auch
eine andere Grenzlinie verabredet werden.

284.

Das Statsgebiet iſt in der Regel unveräußerlich und untheilbar.

Die Veräußerlichkeit und die Theilbarkeit des Statsgebiets wider-
ſtreitet der organiſchen Natur der Dauerhaftigkeit und der Einheit des Stats. Weil
das Statsbewußtſein im Mittelalter wenig ausgebildet war und das Statsgebiet
wie ein im Eigenthum des Landesherrn befindliches Grundſtück betrachtet wurde, ſo
meinte man damals Territorien, wie Landgüter verkaufen und unter mehrere Erben
vertheilen zu dürfen. Freilich ſchon damals ſuchten die Stände oft ſolchen Uebeln
durch Verträge zu begegnen, welche ſie mit den Fürſten abſchloſſen. Aber nur all-
mählich iſt die richtige Regel erkannt und in das allgemeine Statsrecht der neuern
Zeit aufgenommen worden.

285.

Ausnahmsweiſe kann ein Stat einen Theil ſeines Gebiets aus poli-
tiſchen Gründen und in öffentlich-rechtlicher Form an einen andern Stat
abtreten.

Es iſt das nicht eine ſachliche, dem Privatverkehr entlehnte Veräußerung,
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[168/0190] Viertes Buch. len der Flüſſe her allmählich das Statsgebiet ſich über deren Gebiet und bis an die Mündung ausgedehnt hat. Von den Quellen des Indus und Ganges her iſt die alte indiſch-ariſche Eroberung allmählich vorgedrungen bis ans Meer. Am Oberrhein ſetzten ſich die alten Germanen früher feſt, als an den Ausläufen des Rheins ins Meer und der öſterreichiſch-ungariſche Donauſtat iſt nicht im Beſitz der Sulinamündungen. Die Behauptung engliſcher Publiciſten und Statsmänner, daß England im Beſitz der amerikaniſchen Seeküſte auch eine Herrſchaft habe über den ganzen nördlichen Continent Amerikas, von Meer zu Meer, war offenbar phantaſtiſch übertrieben und wurde von den andern coloniſirenden Mächten auch nicht anerkannt. 283. Wenn zwei Staten von zwei benachbarten Punkten aus ſich coloni- ſirend feſtſetzen und ſtatlichen Beſitz ergreifen und nicht durch die Rückſicht auf den natürlichen innern Zuſammenhang zweier verſchiedener Flußgebiete und eine Bergſcheide ihre Gebiete ſich naturgemäß unterſcheiden, ſo wird eine mittlere Linie zwiſchen den beiden Gebieten als Grenze angenommen. Vgl. Phillimore a. a. O. Selbſtverſtändlich kann vertragsmäßig auch eine andere Grenzlinie verabredet werden. 284. Das Statsgebiet iſt in der Regel unveräußerlich und untheilbar. Die Veräußerlichkeit und die Theilbarkeit des Statsgebiets wider- ſtreitet der organiſchen Natur der Dauerhaftigkeit und der Einheit des Stats. Weil das Statsbewußtſein im Mittelalter wenig ausgebildet war und das Statsgebiet wie ein im Eigenthum des Landesherrn befindliches Grundſtück betrachtet wurde, ſo meinte man damals Territorien, wie Landgüter verkaufen und unter mehrere Erben vertheilen zu dürfen. Freilich ſchon damals ſuchten die Stände oft ſolchen Uebeln durch Verträge zu begegnen, welche ſie mit den Fürſten abſchloſſen. Aber nur all- mählich iſt die richtige Regel erkannt und in das allgemeine Statsrecht der neuern Zeit aufgenommen worden. 285. Ausnahmsweiſe kann ein Stat einen Theil ſeines Gebiets aus poli- tiſchen Gründen und in öffentlich-rechtlicher Form an einen andern Stat abtreten. Es iſt das nicht eine ſachliche, dem Privatverkehr entlehnte Veräußerung, ſondern eine ſtatliche, in Inhalt und Form öffentlich-rechtliche Abtretung. Am

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/190>, abgerufen am 25.04.2024.