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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
öftersten kommt dieselbe in Friedensschlüssen, nachdem ein Krieg die politi-
sche Nothwendigkeit derselben klar gemacht hat. Sie kann aber auch ohne Krieg aus
Einsicht in die politische Zweckmäßigkeit und freiwillig vollzogen werden. Eines der
merkwürdigsten und rühmlichsten Beispiele dieser Art ist im Jahr 1863 die Abtre-
tung der Jonischen Inseln an das Königreich Griechenland von Seite der
englischen Krone. Andere neuere Beispiele einer friedlichen Abtretung sind die
Abtretungen Savoyens an Frankreich 1860 von Seite Italiens, die des
österreichischen Antheils an dem Fürstenthum Lauenburg an Preußen
1865 und die der russischen Besitzungen in Nordamerika an die Vereinigten
Staten
1867.

286.

Die Rechtsgültigkeit einer derartigen Abtretung setzt voraus:

a) die zusammenstimmende politische Willenserklärung sowohl des
abtretenden als des empfangenden States,
b) die thatsächliche Besitzergreifung von Seite des erwerbenden
States,
c) mindestens die Anerkennung von Seite der politisch berechtigten
Völkerschaft, welche das abgetretene Gebiet bewohnt und nun in
einen neuen Stat übertritt.

Durch den Vertrag allein wird die Abtretung nicht vollzogen, sondern nur
vorbereitet. Ohne Statsregierung gibt es keine Statshoheit. Die letz-
tere muß also durch die erstere bewährt werden und das geschieht durch die dauernde
Besitzergreifung. Die Anerkennung der politisch berechtigten Völkerschaft ist deß-
halb unerläßlich, weil dieselbe nicht ein willen- und rechtloser Gegenstand der Ver-
äußerung ist, sondern ein lebendiger Bestandtheil des Stats, und der Widerstand der
Bevölkerung eine friedliche Besitzergreifung unmöglich macht. Es genügt aber die
Anerkennung der Nothwendigkeit, und es ist nicht nöthig, wenn auch wün-
schenswerth, die freie und freudige Zustimmung der Bevölkerung. Auch die Noth-
wendigkeit, der man sich widerwillig und ungern, aber aus Einsicht in das Unver-
meidliche unterordnet, begründet in öffentlichen Verhältnissen neues Recht. Diese
Anerkennung liegt daher schon in dem Gehorsam, welchen man der neuen Landes-
regierung erweist und in dem Unterlassen des Widerstandes gegen dieselbe.
Die freie Zustimmung dagegen ist zugleich eine active Billigung der Abtretung.
Besser ist es unzweifelhaft, wenn die letztere gewonnen werden kann und der erwer-
bende Stat nicht genöthigt ist, sich vorerst mit der erstern zu begnügen. Vgl. unten
§ 288. 289.

287.

Wird das ganze Statsgebiet abgetreten, so ist das zugleich Unter-

Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
öfterſten kommt dieſelbe in Friedensſchlüſſen, nachdem ein Krieg die politi-
ſche Nothwendigkeit derſelben klar gemacht hat. Sie kann aber auch ohne Krieg aus
Einſicht in die politiſche Zweckmäßigkeit und freiwillig vollzogen werden. Eines der
merkwürdigſten und rühmlichſten Beiſpiele dieſer Art iſt im Jahr 1863 die Abtre-
tung der Joniſchen Inſeln an das Königreich Griechenland von Seite der
engliſchen Krone. Andere neuere Beiſpiele einer friedlichen Abtretung ſind die
Abtretungen Savoyens an Frankreich 1860 von Seite Italiens, die des
öſterreichiſchen Antheils an dem Fürſtenthum Lauenburg an Preußen
1865 und die der ruſſiſchen Beſitzungen in Nordamerika an die Vereinigten
Staten
1867.

286.

Die Rechtsgültigkeit einer derartigen Abtretung ſetzt voraus:

a) die zuſammenſtimmende politiſche Willenserklärung ſowohl des
abtretenden als des empfangenden States,
b) die thatſächliche Beſitzergreifung von Seite des erwerbenden
States,
c) mindeſtens die Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten
Völkerſchaft, welche das abgetretene Gebiet bewohnt und nun in
einen neuen Stat übertritt.

Durch den Vertrag allein wird die Abtretung nicht vollzogen, ſondern nur
vorbereitet. Ohne Statsregierung gibt es keine Statshoheit. Die letz-
tere muß alſo durch die erſtere bewährt werden und das geſchieht durch die dauernde
Beſitzergreifung. Die Anerkennung der politiſch berechtigten Völkerſchaft iſt deß-
halb unerläßlich, weil dieſelbe nicht ein willen- und rechtloſer Gegenſtand der Ver-
äußerung iſt, ſondern ein lebendiger Beſtandtheil des Stats, und der Widerſtand der
Bevölkerung eine friedliche Beſitzergreifung unmöglich macht. Es genügt aber die
Anerkennung der Nothwendigkeit, und es iſt nicht nöthig, wenn auch wün-
ſchenswerth, die freie und freudige Zuſtimmung der Bevölkerung. Auch die Noth-
wendigkeit, der man ſich widerwillig und ungern, aber aus Einſicht in das Unver-
meidliche unterordnet, begründet in öffentlichen Verhältniſſen neues Recht. Dieſe
Anerkennung liegt daher ſchon in dem Gehorſam, welchen man der neuen Landes-
regierung erweist und in dem Unterlaſſen des Widerſtandes gegen dieſelbe.
Die freie Zuſtimmung dagegen iſt zugleich eine active Billigung der Abtretung.
Beſſer iſt es unzweifelhaft, wenn die letztere gewonnen werden kann und der erwer-
bende Stat nicht genöthigt iſt, ſich vorerſt mit der erſtern zu begnügen. Vgl. unten
§ 288. 289.

287.

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[169/0191] Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit. öfterſten kommt dieſelbe in Friedensſchlüſſen, nachdem ein Krieg die politi- ſche Nothwendigkeit derſelben klar gemacht hat. Sie kann aber auch ohne Krieg aus Einſicht in die politiſche Zweckmäßigkeit und freiwillig vollzogen werden. Eines der merkwürdigſten und rühmlichſten Beiſpiele dieſer Art iſt im Jahr 1863 die Abtre- tung der Joniſchen Inſeln an das Königreich Griechenland von Seite der engliſchen Krone. Andere neuere Beiſpiele einer friedlichen Abtretung ſind die Abtretungen Savoyens an Frankreich 1860 von Seite Italiens, die des öſterreichiſchen Antheils an dem Fürſtenthum Lauenburg an Preußen 1865 und die der ruſſiſchen Beſitzungen in Nordamerika an die Vereinigten Staten 1867. 286. Die Rechtsgültigkeit einer derartigen Abtretung ſetzt voraus: a) die zuſammenſtimmende politiſche Willenserklärung ſowohl des abtretenden als des empfangenden States, b) die thatſächliche Beſitzergreifung von Seite des erwerbenden States, c) mindeſtens die Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten Völkerſchaft, welche das abgetretene Gebiet bewohnt und nun in einen neuen Stat übertritt. Durch den Vertrag allein wird die Abtretung nicht vollzogen, ſondern nur vorbereitet. Ohne Statsregierung gibt es keine Statshoheit. Die letz- tere muß alſo durch die erſtere bewährt werden und das geſchieht durch die dauernde Beſitzergreifung. Die Anerkennung der politiſch berechtigten Völkerſchaft iſt deß- halb unerläßlich, weil dieſelbe nicht ein willen- und rechtloſer Gegenſtand der Ver- äußerung iſt, ſondern ein lebendiger Beſtandtheil des Stats, und der Widerſtand der Bevölkerung eine friedliche Beſitzergreifung unmöglich macht. Es genügt aber die Anerkennung der Nothwendigkeit, und es iſt nicht nöthig, wenn auch wün- ſchenswerth, die freie und freudige Zuſtimmung der Bevölkerung. Auch die Noth- wendigkeit, der man ſich widerwillig und ungern, aber aus Einſicht in das Unver- meidliche unterordnet, begründet in öffentlichen Verhältniſſen neues Recht. Dieſe Anerkennung liegt daher ſchon in dem Gehorſam, welchen man der neuen Landes- regierung erweist und in dem Unterlaſſen des Widerſtandes gegen dieſelbe. Die freie Zuſtimmung dagegen iſt zugleich eine active Billigung der Abtretung. Beſſer iſt es unzweifelhaft, wenn die letztere gewonnen werden kann und der erwer- bende Stat nicht genöthigt iſt, ſich vorerſt mit der erſtern zu begnügen. Vgl. unten § 288. 289. 287. Wird das ganze Statsgebiet abgetreten, ſo iſt das zugleich Unter-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/191>, abgerufen am 23.04.2024.