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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Fünftes Buch.
373.

In der Regel ist jedes Individuum nur mit Einem State verbunden
und ist die Statsgenossenschaft wie das Statsbürgerrecht auf Ein Land
beschränkt.

Die Natur der Statsgenossenschaft, welche hinwieder eine Vorbedingung ist
des Statsbürgerrechts, ist so entscheidend für das ganze persönliche Rechtsverhältniß
und der Verband des Einzelnen mit dem State ist ein so enger, daß eine Spaltung
der Einen Person nach zwei Staten hin oder eine zwiefache Verbindung derselben
erhebliche Schwierigkeiten und ernste Bedenken gegen sich hat. Man kann ohne Be-
denken zugleich Mitglied verschiedener Actiengesellschaften, aber nicht ebenso leicht
Bürger in zwei Staten sein. Daher ist in manchen Ländern die gesetzliche Bestim-
mung vorgeschrieben, daß Niemand neu als Statsgenosse aufgenommen (naturalisirt)
werde, wenn er nicht aus seinem bisherigen Statsverbande entlassen worden sei.
Man will dadurch den möglichen Conflicten einer zwiefachen Statsgenossen-
schaft
entgehen. Aber es läßt sich in dieser Form nicht immer helfen, weil mög-
licher Weise der eine Stat die Entlassung verweigert, während der andere die Natu-
ralisation für gerechtfertigt und zweckmäßig hält.

In zusammengesetzten Staten (Bundesstaten und Statenreichen)
kommt regelmäßig eine doppelte Beziehung der Statsangehörigkeit und des Stats-
bürgerrechts vor, einmal gegenüber dem Gesammtstate und sodann gegenüber dem
Einzelstate. Diese beiden Verbände widerstreiten sich nicht, weil der zusammengesetzte
Stat in sich selber denselben Gegensatz zwischen Einem Gesammtstat und mehreren
Einzelstaten friedlich zu einigen weiß.

374.

Ausnahmsweise können ein Einzelner und dessen Familie mit zwei
oder mehreren einander fremden Staten als Statsgenossen verbunden sein.

Wenn aus dieser Doppelbeziehung sich ein Conflict der Statsrechte
und der Bürgerpflichten ergeben sollte, so wird angenommen, daß der
Statsverband vorzugsweise wirksam sei, in dessen Lande der Doppelbürger
gegenwärtig wohnt und daß die Wirksamkeit des Statsverbands suspendirt
sei, in dessen Lande der Doppelbürger zur Zeit nicht wohnt.

Vgl. die ähnliche Entscheidung in § 371. Derartige Ausnahmen kommen unleug-
bar vor. Die standesherrlichen Familien in Deutschland gehören öfter gleichzeitig
dem Statsverbande zweier oder mehrerer deutscher Staten an und ihre Häupter
haben dann Stimmrecht in den Ersten Kammern verschiedener Staten. Ebenso fin-
den sich manche andere Beispiele, daß Angehörige eines Stats, ohne den Verband
mit ihrem alten Vaterland abzulösen, in einen fremden Statsdienst eingetreten und
in Folge dessen auch Statsgenossen eines andern Stats geworden sind. Ich

Fünftes Buch.
373.

In der Regel iſt jedes Individuum nur mit Einem State verbunden
und iſt die Statsgenoſſenſchaft wie das Statsbürgerrecht auf Ein Land
beſchränkt.

Die Natur der Statsgenoſſenſchaft, welche hinwieder eine Vorbedingung iſt
des Statsbürgerrechts, iſt ſo entſcheidend für das ganze perſönliche Rechtsverhältniß
und der Verband des Einzelnen mit dem State iſt ein ſo enger, daß eine Spaltung
der Einen Perſon nach zwei Staten hin oder eine zwiefache Verbindung derſelben
erhebliche Schwierigkeiten und ernſte Bedenken gegen ſich hat. Man kann ohne Be-
denken zugleich Mitglied verſchiedener Actiengeſellſchaften, aber nicht ebenſo leicht
Bürger in zwei Staten ſein. Daher iſt in manchen Ländern die geſetzliche Beſtim-
mung vorgeſchrieben, daß Niemand neu als Statsgenoſſe aufgenommen (naturaliſirt)
werde, wenn er nicht aus ſeinem bisherigen Statsverbande entlaſſen worden ſei.
Man will dadurch den möglichen Conflicten einer zwiefachen Statsgenoſſen-
ſchaft
entgehen. Aber es läßt ſich in dieſer Form nicht immer helfen, weil mög-
licher Weiſe der eine Stat die Entlaſſung verweigert, während der andere die Natu-
raliſation für gerechtfertigt und zweckmäßig hält.

In zuſammengeſetzten Staten (Bundesſtaten und Statenreichen)
kommt regelmäßig eine doppelte Beziehung der Statsangehörigkeit und des Stats-
bürgerrechts vor, einmal gegenüber dem Geſammtſtate und ſodann gegenüber dem
Einzelſtate. Dieſe beiden Verbände widerſtreiten ſich nicht, weil der zuſammengeſetzte
Stat in ſich ſelber denſelben Gegenſatz zwiſchen Einem Geſammtſtat und mehreren
Einzelſtaten friedlich zu einigen weiß.

374.

Ausnahmsweiſe können ein Einzelner und deſſen Familie mit zwei
oder mehreren einander fremden Staten als Statsgenoſſen verbunden ſein.

Wenn aus dieſer Doppelbeziehung ſich ein Conflict der Statsrechte
und der Bürgerpflichten ergeben ſollte, ſo wird angenommen, daß der
Statsverband vorzugsweiſe wirkſam ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger
gegenwärtig wohnt und daß die Wirkſamkeit des Statsverbands ſuspendirt
ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger zur Zeit nicht wohnt.

Vgl. die ähnliche Entſcheidung in § 371. Derartige Ausnahmen kommen unleug-
bar vor. Die ſtandesherrlichen Familien in Deutſchland gehören öfter gleichzeitig
dem Statsverbande zweier oder mehrerer deutſcher Staten an und ihre Häupter
haben dann Stimmrecht in den Erſten Kammern verſchiedener Staten. Ebenſo fin-
den ſich manche andere Beiſpiele, daß Angehörige eines Stats, ohne den Verband
mit ihrem alten Vaterland abzulöſen, in einen fremden Statsdienſt eingetreten und
in Folge deſſen auch Statsgenoſſen eines andern Stats geworden ſind. Ich

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[216/0238] Fünftes Buch. 373. In der Regel iſt jedes Individuum nur mit Einem State verbunden und iſt die Statsgenoſſenſchaft wie das Statsbürgerrecht auf Ein Land beſchränkt. Die Natur der Statsgenoſſenſchaft, welche hinwieder eine Vorbedingung iſt des Statsbürgerrechts, iſt ſo entſcheidend für das ganze perſönliche Rechtsverhältniß und der Verband des Einzelnen mit dem State iſt ein ſo enger, daß eine Spaltung der Einen Perſon nach zwei Staten hin oder eine zwiefache Verbindung derſelben erhebliche Schwierigkeiten und ernſte Bedenken gegen ſich hat. Man kann ohne Be- denken zugleich Mitglied verſchiedener Actiengeſellſchaften, aber nicht ebenſo leicht Bürger in zwei Staten ſein. Daher iſt in manchen Ländern die geſetzliche Beſtim- mung vorgeſchrieben, daß Niemand neu als Statsgenoſſe aufgenommen (naturaliſirt) werde, wenn er nicht aus ſeinem bisherigen Statsverbande entlaſſen worden ſei. Man will dadurch den möglichen Conflicten einer zwiefachen Statsgenoſſen- ſchaft entgehen. Aber es läßt ſich in dieſer Form nicht immer helfen, weil mög- licher Weiſe der eine Stat die Entlaſſung verweigert, während der andere die Natu- raliſation für gerechtfertigt und zweckmäßig hält. In zuſammengeſetzten Staten (Bundesſtaten und Statenreichen) kommt regelmäßig eine doppelte Beziehung der Statsangehörigkeit und des Stats- bürgerrechts vor, einmal gegenüber dem Geſammtſtate und ſodann gegenüber dem Einzelſtate. Dieſe beiden Verbände widerſtreiten ſich nicht, weil der zuſammengeſetzte Stat in ſich ſelber denſelben Gegenſatz zwiſchen Einem Geſammtſtat und mehreren Einzelſtaten friedlich zu einigen weiß. 374. Ausnahmsweiſe können ein Einzelner und deſſen Familie mit zwei oder mehreren einander fremden Staten als Statsgenoſſen verbunden ſein. Wenn aus dieſer Doppelbeziehung ſich ein Conflict der Statsrechte und der Bürgerpflichten ergeben ſollte, ſo wird angenommen, daß der Statsverband vorzugsweiſe wirkſam ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger gegenwärtig wohnt und daß die Wirkſamkeit des Statsverbands ſuspendirt ſei, in deſſen Lande der Doppelbürger zur Zeit nicht wohnt. Vgl. die ähnliche Entſcheidung in § 371. Derartige Ausnahmen kommen unleug- bar vor. Die ſtandesherrlichen Familien in Deutſchland gehören öfter gleichzeitig dem Statsverbande zweier oder mehrerer deutſcher Staten an und ihre Häupter haben dann Stimmrecht in den Erſten Kammern verſchiedener Staten. Ebenſo fin- den ſich manche andere Beiſpiele, daß Angehörige eines Stats, ohne den Verband mit ihrem alten Vaterland abzulöſen, in einen fremden Statsdienſt eingetreten und in Folge deſſen auch Statsgenoſſen eines andern Stats geworden ſind. Ich

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/238>, abgerufen am 28.03.2024.