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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Sechstes Buch.
2. Form der Verträge.
417.

Die bloße einseitige Willenserklärung eines States, auch wenn sie
einem andern State gegenüber geschieht, wirkt nur insofern als Vertrags-
erklärung, wenn

a) die Absicht des erklärenden States, sich durch die Erklärung zu
binden, offenbar geworden und
b) jener Erklärung die Annahme des Versprechens von Seite des
andern States gefolgt ist.

Wenn ein Stat in seinen diplomatischen Aeußerungen lediglich die freien
Entschlüsse mittheilt, die er auszuführen die Absicht hat, so entsteht kein Vertrags-
recht, so wenig als durch die Mittheilung einer Privatperson über ihre freien Vor-
sätze. Es muß die Absicht, sich zu binden, ausgesprochen sein.

418.

Die sogenannten Tractate, d. h. die Aufzeichnung dessen, worüber
sich die unterhandelnden Staten vorläufig verständigt haben, werden nur
als Entwurf zu einem Vertrage betrachtet und sind daher noch nicht ver-
pflichtend.

Solche Punctationen und Tractate sind nur ausnahmsweise verbindlich,
wenn die unterhandelnden Vertreter diese Verbindlichkeit ausdrücklich gewollt und zu-
gestanden haben.

419.

Die Unterzeichnung des bereinigten Vertragsprotocolls oder der fer-
tigen Vertragsurkunde durch die bevollmächtigten Gesanten oder Agenten
der contrahirenden Staten wirkt für die vertretenen Staten verbindlich,
wenn dieselbe ohne Vorbehalt und ohne Bedingung geschehen ist. Der
Vorbehalt der nachfolgenden Ratification der Statsgewalt wird aber unter
Umständen als selbstverständlich vorausgesetzt.

Wenn die Vertreter der unterhandelnden Staten ermächtigt sind, die definitive
verbindliche Willenserklärung derselben abzugeben, so muß auch ihre Erklärung bin-
den, und die Unterzeichnung des Vertragsprotokolls oder der Vertragsurkunde wird
als eine solche Vertragserklärung angesehen. Das schließt freilich die Möglichkeit

Sechstes Buch.
2. Form der Verträge.
417.

Die bloße einſeitige Willenserklärung eines States, auch wenn ſie
einem andern State gegenüber geſchieht, wirkt nur inſofern als Vertrags-
erklärung, wenn

a) die Abſicht des erklärenden States, ſich durch die Erklärung zu
binden, offenbar geworden und
b) jener Erklärung die Annahme des Verſprechens von Seite des
andern States gefolgt iſt.

Wenn ein Stat in ſeinen diplomatiſchen Aeußerungen lediglich die freien
Entſchlüſſe mittheilt, die er auszuführen die Abſicht hat, ſo entſteht kein Vertrags-
recht, ſo wenig als durch die Mittheilung einer Privatperſon über ihre freien Vor-
ſätze. Es muß die Abſicht, ſich zu binden, ausgeſprochen ſein.

418.

Die ſogenannten Tractate, d. h. die Aufzeichnung deſſen, worüber
ſich die unterhandelnden Staten vorläufig verſtändigt haben, werden nur
als Entwurf zu einem Vertrage betrachtet und ſind daher noch nicht ver-
pflichtend.

Solche Punctationen und Tractate ſind nur ausnahmsweiſe verbindlich,
wenn die unterhandelnden Vertreter dieſe Verbindlichkeit ausdrücklich gewollt und zu-
geſtanden haben.

419.

Die Unterzeichnung des bereinigten Vertragsprotocolls oder der fer-
tigen Vertragsurkunde durch die bevollmächtigten Geſanten oder Agenten
der contrahirenden Staten wirkt für die vertretenen Staten verbindlich,
wenn dieſelbe ohne Vorbehalt und ohne Bedingung geſchehen iſt. Der
Vorbehalt der nachfolgenden Ratification der Statsgewalt wird aber unter
Umſtänden als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt.

Wenn die Vertreter der unterhandelnden Staten ermächtigt ſind, die definitive
verbindliche Willenserklärung derſelben abzugeben, ſo muß auch ihre Erklärung bin-
den, und die Unterzeichnung des Vertragsprotokolls oder der Vertragsurkunde wird
als eine ſolche Vertragserklärung angeſehen. Das ſchließt freilich die Möglichkeit

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[238/0260] Sechstes Buch. 2. Form der Verträge. 417. Die bloße einſeitige Willenserklärung eines States, auch wenn ſie einem andern State gegenüber geſchieht, wirkt nur inſofern als Vertrags- erklärung, wenn a) die Abſicht des erklärenden States, ſich durch die Erklärung zu binden, offenbar geworden und b) jener Erklärung die Annahme des Verſprechens von Seite des andern States gefolgt iſt. Wenn ein Stat in ſeinen diplomatiſchen Aeußerungen lediglich die freien Entſchlüſſe mittheilt, die er auszuführen die Abſicht hat, ſo entſteht kein Vertrags- recht, ſo wenig als durch die Mittheilung einer Privatperſon über ihre freien Vor- ſätze. Es muß die Abſicht, ſich zu binden, ausgeſprochen ſein. 418. Die ſogenannten Tractate, d. h. die Aufzeichnung deſſen, worüber ſich die unterhandelnden Staten vorläufig verſtändigt haben, werden nur als Entwurf zu einem Vertrage betrachtet und ſind daher noch nicht ver- pflichtend. Solche Punctationen und Tractate ſind nur ausnahmsweiſe verbindlich, wenn die unterhandelnden Vertreter dieſe Verbindlichkeit ausdrücklich gewollt und zu- geſtanden haben. 419. Die Unterzeichnung des bereinigten Vertragsprotocolls oder der fer- tigen Vertragsurkunde durch die bevollmächtigten Geſanten oder Agenten der contrahirenden Staten wirkt für die vertretenen Staten verbindlich, wenn dieſelbe ohne Vorbehalt und ohne Bedingung geſchehen iſt. Der Vorbehalt der nachfolgenden Ratification der Statsgewalt wird aber unter Umſtänden als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Wenn die Vertreter der unterhandelnden Staten ermächtigt ſind, die definitive verbindliche Willenserklärung derſelben abzugeben, ſo muß auch ihre Erklärung bin- den, und die Unterzeichnung des Vertragsprotokolls oder der Vertragsurkunde wird als eine ſolche Vertragserklärung angeſehen. Das ſchließt freilich die Möglichkeit

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/260>, abgerufen am 29.03.2024.