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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Sechstes Buch.
chen der dritte Garant einer Vertragspartei Hülfe verspricht (Bürgschafts-
garantie), und
b) der Hauptvertrag, durch welchen eine Anzahl Mächte einen
völkerrechtlichen Rechtszustand unter ihren selbständigen Schutz nehmen
(Garantiebeschluß). Im ersten Fall erscheint die Pflicht und das Recht ab-
hängig von dem Recht des States, zu dessen Gunsten die Garantie übernommen
worden ist. Im zweiten Fall ist sie davon unabhängig, weil sie überhaupt nicht
bloß oder nicht hauptsächlich für eine andere Hauptpartei, sondern wesentlich aus
Gründen und Interessen der Garanten selber und von diesen in selbständiger Weise
verabredet wird. Wenn z. B. ein Gesammtstat den Bestand und die Verfassung der
Einzelstaten gewährleistet (garantirt), so ist unter Umständen eine Intervention des-
selben gerechtfertigt, wenn gleich dieselbe nicht angerufen worden ist. Oder wenn
die europäischen Mächte die Neutralität Belgiens aus Gründen des allge-
meinen europäischen Interesses (Vertrag von 1839) oder die relative Selbständigkeit
der Donaufürstenthümer (1856) garantirt haben, so wären die Garantiemächte
unzweifelhaft zum Einschreiten gegen eine einzelne fremde Macht berechtigt, welche
jene Neutralität oder diese Selbständigkeit ernstlich mißachtete, auch wenn sie von
diesen bedrohten Ländern nicht um Hülfe angerufen würden.

433.

Erstreckt sich die Garantie auf den Rechtsschutz der Unterthanen eines
Stats, wie z. B. zur Erhaltung von besondern Stiftungen und Anstalten,
oder im Interesse der ungehemmten Religionsübung oder bestimmter herge-
brachter Freiheiten, so können auch diese betheiligten Privatpersonen die
Hülfe der Garanten anrufen, aber nur, wenn zuvor ihre gerechten Be-
schwerden oder Begehren bei der eigenen Statsgewalt in dem ordentlichen
Rechtsverfahren angebracht, aber kein Rechtsschutz gewährt worden ist.

So weit die regelmäßigen statsrechtlichen Mittel ausreichen, um
die Rechtsansprüche der Statsangehörigen zu sichern, darf nicht die völkerrecht-
liche Intervention
der fremden Garantiemacht angerufen werden, theils weil
Handhabung des Rechtsschutzes zunächst Sache des eigenen und nicht eines fremden
States ist, theils weil jede Einmischung eines fremden Stats für die Selbständigkeit
und Freiheit des eigenen States gefährlich ist, theils weil die Garantie des fremden
States ihrem Wesen nach nur eine subsidiäre Rechtshülfe ist. Aber im
Nothfall darf auch diese Hülfe von denen angerufen werden, zu deren Gunsten die-
ses völkerrechtliche Hülfsmittel verabredet worden ist.

Der Garant ist nicht verpflichtet, Hülfe zu leisten, so lange der Hülfe Be-
gehrende der Hülfe nicht bedarf, und er bedarf ihrer nicht, so lange er im Stande
ist, sich selber zu helfen.

Sechstes Buch.
chen der dritte Garant einer Vertragspartei Hülfe verſpricht (Bürgſchafts-
garantie), und
b) der Hauptvertrag, durch welchen eine Anzahl Mächte einen
völkerrechtlichen Rechtszuſtand unter ihren ſelbſtändigen Schutz nehmen
(Garantiebeſchluß). Im erſten Fall erſcheint die Pflicht und das Recht ab-
hängig von dem Recht des States, zu deſſen Gunſten die Garantie übernommen
worden iſt. Im zweiten Fall iſt ſie davon unabhängig, weil ſie überhaupt nicht
bloß oder nicht hauptſächlich für eine andere Hauptpartei, ſondern weſentlich aus
Gründen und Intereſſen der Garanten ſelber und von dieſen in ſelbſtändiger Weiſe
verabredet wird. Wenn z. B. ein Geſammtſtat den Beſtand und die Verfaſſung der
Einzelſtaten gewährleiſtet (garantirt), ſo iſt unter Umſtänden eine Intervention des-
ſelben gerechtfertigt, wenn gleich dieſelbe nicht angerufen worden iſt. Oder wenn
die europäiſchen Mächte die Neutralität Belgiens aus Gründen des allge-
meinen europäiſchen Intereſſes (Vertrag von 1839) oder die relative Selbſtändigkeit
der Donaufürſtenthümer (1856) garantirt haben, ſo wären die Garantiemächte
unzweifelhaft zum Einſchreiten gegen eine einzelne fremde Macht berechtigt, welche
jene Neutralität oder dieſe Selbſtändigkeit ernſtlich mißachtete, auch wenn ſie von
dieſen bedrohten Ländern nicht um Hülfe angerufen würden.

433.

Erſtreckt ſich die Garantie auf den Rechtsſchutz der Unterthanen eines
Stats, wie z. B. zur Erhaltung von beſondern Stiftungen und Anſtalten,
oder im Intereſſe der ungehemmten Religionsübung oder beſtimmter herge-
brachter Freiheiten, ſo können auch dieſe betheiligten Privatperſonen die
Hülfe der Garanten anrufen, aber nur, wenn zuvor ihre gerechten Be-
ſchwerden oder Begehren bei der eigenen Statsgewalt in dem ordentlichen
Rechtsverfahren angebracht, aber kein Rechtsſchutz gewährt worden iſt.

So weit die regelmäßigen ſtatsrechtlichen Mittel ausreichen, um
die Rechtsanſprüche der Statsangehörigen zu ſichern, darf nicht die völkerrecht-
liche Intervention
der fremden Garantiemacht angerufen werden, theils weil
Handhabung des Rechtsſchutzes zunächſt Sache des eigenen und nicht eines fremden
States iſt, theils weil jede Einmiſchung eines fremden Stats für die Selbſtändigkeit
und Freiheit des eigenen States gefährlich iſt, theils weil die Garantie des fremden
States ihrem Weſen nach nur eine ſubſidiäre Rechtshülfe iſt. Aber im
Nothfall darf auch dieſe Hülfe von denen angerufen werden, zu deren Gunſten die-
ſes völkerrechtliche Hülfsmittel verabredet worden iſt.

Der Garant iſt nicht verpflichtet, Hülfe zu leiſten, ſo lange der Hülfe Be-
gehrende der Hülfe nicht bedarf, und er bedarf ihrer nicht, ſo lange er im Stande
iſt, ſich ſelber zu helfen.

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[244/0266] Sechstes Buch. chen der dritte Garant einer Vertragspartei Hülfe verſpricht (Bürgſchafts- garantie), und b) der Hauptvertrag, durch welchen eine Anzahl Mächte einen völkerrechtlichen Rechtszuſtand unter ihren ſelbſtändigen Schutz nehmen (Garantiebeſchluß). Im erſten Fall erſcheint die Pflicht und das Recht ab- hängig von dem Recht des States, zu deſſen Gunſten die Garantie übernommen worden iſt. Im zweiten Fall iſt ſie davon unabhängig, weil ſie überhaupt nicht bloß oder nicht hauptſächlich für eine andere Hauptpartei, ſondern weſentlich aus Gründen und Intereſſen der Garanten ſelber und von dieſen in ſelbſtändiger Weiſe verabredet wird. Wenn z. B. ein Geſammtſtat den Beſtand und die Verfaſſung der Einzelſtaten gewährleiſtet (garantirt), ſo iſt unter Umſtänden eine Intervention des- ſelben gerechtfertigt, wenn gleich dieſelbe nicht angerufen worden iſt. Oder wenn die europäiſchen Mächte die Neutralität Belgiens aus Gründen des allge- meinen europäiſchen Intereſſes (Vertrag von 1839) oder die relative Selbſtändigkeit der Donaufürſtenthümer (1856) garantirt haben, ſo wären die Garantiemächte unzweifelhaft zum Einſchreiten gegen eine einzelne fremde Macht berechtigt, welche jene Neutralität oder dieſe Selbſtändigkeit ernſtlich mißachtete, auch wenn ſie von dieſen bedrohten Ländern nicht um Hülfe angerufen würden. 433. Erſtreckt ſich die Garantie auf den Rechtsſchutz der Unterthanen eines Stats, wie z. B. zur Erhaltung von beſondern Stiftungen und Anſtalten, oder im Intereſſe der ungehemmten Religionsübung oder beſtimmter herge- brachter Freiheiten, ſo können auch dieſe betheiligten Privatperſonen die Hülfe der Garanten anrufen, aber nur, wenn zuvor ihre gerechten Be- ſchwerden oder Begehren bei der eigenen Statsgewalt in dem ordentlichen Rechtsverfahren angebracht, aber kein Rechtsſchutz gewährt worden iſt. So weit die regelmäßigen ſtatsrechtlichen Mittel ausreichen, um die Rechtsanſprüche der Statsangehörigen zu ſichern, darf nicht die völkerrecht- liche Intervention der fremden Garantiemacht angerufen werden, theils weil Handhabung des Rechtsſchutzes zunächſt Sache des eigenen und nicht eines fremden States iſt, theils weil jede Einmiſchung eines fremden Stats für die Selbſtändigkeit und Freiheit des eigenen States gefährlich iſt, theils weil die Garantie des fremden States ihrem Weſen nach nur eine ſubſidiäre Rechtshülfe iſt. Aber im Nothfall darf auch dieſe Hülfe von denen angerufen werden, zu deren Gunſten die- ſes völkerrechtliche Hülfsmittel verabredet worden iſt. Der Garant iſt nicht verpflichtet, Hülfe zu leiſten, ſo lange der Hülfe Be- gehrende der Hülfe nicht bedarf, und er bedarf ihrer nicht, ſo lange er im Stande iſt, ſich ſelber zu helfen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/266>, abgerufen am 28.03.2024.