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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Das Kriegsrecht.
der regelmäßigen Rechtsnothwendigkeit beachten, und darf dieselben nur dann und
nur insofern überschreiten, als die ausnahmsweise militärische Nothwendigkeit
es fordert. Treulosigkeit und barbarische Grausamkeit sind auch dann nicht gegen
den Feind erlaubt, wenn dieselben für den Gang des Krieges vortheilhaft zu sein
scheinen. Die ganze Existenz des Kriegsrechts bedeutet Beschränkung der
Kriegsleidenschaft und der Kriegswillkür
.

535.

Ausrottungs- und Vernichtungskriege gegen lebens- und culturfähige
Völker und Stämme sind völkerrechtswidrig.

1. Der Vertilgungskrieg gegen die abgöttischen Bewohner von Palästina,
welchen die alten Juden noch für eine heilige Pflicht hielten, wird von dem huma-
neren Rechtsgefühl der heutigen Welt als Barbarei getadelt und darf nicht mehr
wie ein nachahmungswürdiges Beispiel gepriesen werden.

2. Zur Zeit noch weniger empfindlich ist das moderne Rechtsgefühl gegenüber
von wilden Stämmen. Das Völkerrecht schützt dieselben nicht, weil man an-
nimmt, sie gehören nicht zu den großen Völkerfamilien, aus denen die civilisirte
Menschheit besteht, weil sie keinen activen Antheil an der Handhabung des Völker-
rechts haben. Ich sehe darin noch einen Mangel in dem heutigen Völkerrecht. Weil
die Wilden Menschen sind, so sind sie auch menschlich zu behandeln und darf man
ihnen nicht alle Menschenrechte absprechen. Sie sind vielleicht schwer an eine Rechts-
ordnung zu gewöhnen; ihre Erziehung zu gesitteten Menschen ist vielleicht ein un-
dankbares Geschäft, das nur mit geringen Erfolgen die großen Mühen lohnt. Aber
es ist dennoch die Aufgabe und die Pflicht der civilisirten Völker, sich auch dieser Heran-
bildung der rohesten Stämme anzunehmen und sie zu einem menschenwürdi-
geren Zustand heranzubilden
. Nimmermehr darf es zugegeben werden,
daß die Jagd auf wilde Menschen ebenso Jedermann frei stehe oder auch von der
Statsgewalt erlaubt werden dürfe, wie die Jagd auf Füchse und Wölfe.

536.

Das Kriegsziel wird durch die Kriegsursache nur zum Theil be-
stimmt. Die Forderungen wachsen im Verhältniß der Opfer, welche für
den Krieg geleistet, und der Gefahren, welche mit dem Kriege übernommen
worden sind. Der Sieg übt durch seine Bethätigung der wirklichen Macht
auch eine Recht bildende Kraft aus.

1. Das ist der große Unterschied zwischen andern Processen und dem furcht-
baren Rechtsstreit des Kriegs. Das gerichtliche Urtheil geht niemals über das Klage-
recht hinaus, es begnügt sich, das Rechtsverhältniß, welches verletzt worden war,
wieder herzustellen. Die Proceßkosten erscheinen im Civilproceß als eine meist nur

Das Kriegsrecht.
der regelmäßigen Rechtsnothwendigkeit beachten, und darf dieſelben nur dann und
nur inſofern überſchreiten, als die ausnahmsweiſe militäriſche Nothwendigkeit
es fordert. Treuloſigkeit und barbariſche Grauſamkeit ſind auch dann nicht gegen
den Feind erlaubt, wenn dieſelben für den Gang des Krieges vortheilhaft zu ſein
ſcheinen. Die ganze Exiſtenz des Kriegsrechts bedeutet Beſchränkung der
Kriegsleidenſchaft und der Kriegswillkür
.

535.

Ausrottungs- und Vernichtungskriege gegen lebens- und culturfähige
Völker und Stämme ſind völkerrechtswidrig.

1. Der Vertilgungskrieg gegen die abgöttiſchen Bewohner von Paläſtina,
welchen die alten Juden noch für eine heilige Pflicht hielten, wird von dem huma-
neren Rechtsgefühl der heutigen Welt als Barbarei getadelt und darf nicht mehr
wie ein nachahmungswürdiges Beiſpiel geprieſen werden.

2. Zur Zeit noch weniger empfindlich iſt das moderne Rechtsgefühl gegenüber
von wilden Stämmen. Das Völkerrecht ſchützt dieſelben nicht, weil man an-
nimmt, ſie gehören nicht zu den großen Völkerfamilien, aus denen die civiliſirte
Menſchheit beſteht, weil ſie keinen activen Antheil an der Handhabung des Völker-
rechts haben. Ich ſehe darin noch einen Mangel in dem heutigen Völkerrecht. Weil
die Wilden Menſchen ſind, ſo ſind ſie auch menſchlich zu behandeln und darf man
ihnen nicht alle Menſchenrechte abſprechen. Sie ſind vielleicht ſchwer an eine Rechts-
ordnung zu gewöhnen; ihre Erziehung zu geſitteten Menſchen iſt vielleicht ein un-
dankbares Geſchäft, das nur mit geringen Erfolgen die großen Mühen lohnt. Aber
es iſt dennoch die Aufgabe und die Pflicht der civiliſirten Völker, ſich auch dieſer Heran-
bildung der roheſten Stämme anzunehmen und ſie zu einem menſchenwürdi-
geren Zuſtand heranzubilden
. Nimmermehr darf es zugegeben werden,
daß die Jagd auf wilde Menſchen ebenſo Jedermann frei ſtehe oder auch von der
Statsgewalt erlaubt werden dürfe, wie die Jagd auf Füchſe und Wölfe.

536.

Das Kriegsziel wird durch die Kriegsurſache nur zum Theil be-
ſtimmt. Die Forderungen wachſen im Verhältniß der Opfer, welche für
den Krieg geleiſtet, und der Gefahren, welche mit dem Kriege übernommen
worden ſind. Der Sieg übt durch ſeine Bethätigung der wirklichen Macht
auch eine Recht bildende Kraft aus.

1. Das iſt der große Unterſchied zwiſchen andern Proceſſen und dem furcht-
baren Rechtsſtreit des Kriegs. Das gerichtliche Urtheil geht niemals über das Klage-
recht hinaus, es begnügt ſich, das Rechtsverhältniß, welches verletzt worden war,
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[299/0321] Das Kriegsrecht. der regelmäßigen Rechtsnothwendigkeit beachten, und darf dieſelben nur dann und nur inſofern überſchreiten, als die ausnahmsweiſe militäriſche Nothwendigkeit es fordert. Treuloſigkeit und barbariſche Grauſamkeit ſind auch dann nicht gegen den Feind erlaubt, wenn dieſelben für den Gang des Krieges vortheilhaft zu ſein ſcheinen. Die ganze Exiſtenz des Kriegsrechts bedeutet Beſchränkung der Kriegsleidenſchaft und der Kriegswillkür. 535. Ausrottungs- und Vernichtungskriege gegen lebens- und culturfähige Völker und Stämme ſind völkerrechtswidrig. 1. Der Vertilgungskrieg gegen die abgöttiſchen Bewohner von Paläſtina, welchen die alten Juden noch für eine heilige Pflicht hielten, wird von dem huma- neren Rechtsgefühl der heutigen Welt als Barbarei getadelt und darf nicht mehr wie ein nachahmungswürdiges Beiſpiel geprieſen werden. 2. Zur Zeit noch weniger empfindlich iſt das moderne Rechtsgefühl gegenüber von wilden Stämmen. Das Völkerrecht ſchützt dieſelben nicht, weil man an- nimmt, ſie gehören nicht zu den großen Völkerfamilien, aus denen die civiliſirte Menſchheit beſteht, weil ſie keinen activen Antheil an der Handhabung des Völker- rechts haben. Ich ſehe darin noch einen Mangel in dem heutigen Völkerrecht. Weil die Wilden Menſchen ſind, ſo ſind ſie auch menſchlich zu behandeln und darf man ihnen nicht alle Menſchenrechte abſprechen. Sie ſind vielleicht ſchwer an eine Rechts- ordnung zu gewöhnen; ihre Erziehung zu geſitteten Menſchen iſt vielleicht ein un- dankbares Geſchäft, das nur mit geringen Erfolgen die großen Mühen lohnt. Aber es iſt dennoch die Aufgabe und die Pflicht der civiliſirten Völker, ſich auch dieſer Heran- bildung der roheſten Stämme anzunehmen und ſie zu einem menſchenwürdi- geren Zuſtand heranzubilden. Nimmermehr darf es zugegeben werden, daß die Jagd auf wilde Menſchen ebenſo Jedermann frei ſtehe oder auch von der Statsgewalt erlaubt werden dürfe, wie die Jagd auf Füchſe und Wölfe. 536. Das Kriegsziel wird durch die Kriegsurſache nur zum Theil be- ſtimmt. Die Forderungen wachſen im Verhältniß der Opfer, welche für den Krieg geleiſtet, und der Gefahren, welche mit dem Kriege übernommen worden ſind. Der Sieg übt durch ſeine Bethätigung der wirklichen Macht auch eine Recht bildende Kraft aus. 1. Das iſt der große Unterſchied zwiſchen andern Proceſſen und dem furcht- baren Rechtsſtreit des Kriegs. Das gerichtliche Urtheil geht niemals über das Klage- recht hinaus, es begnügt ſich, das Rechtsverhältniß, welches verletzt worden war, wieder herzuſtellen. Die Proceßkoſten erſcheinen im Civilproceß als eine meiſt nur

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/321>, abgerufen am 24.04.2024.