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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Das Kriegsrecht.
offenbar ungerechte Sache kämpfe, begründet niemals das Recht, den feind-
lichen Truppen das Quartier zu verweigern.

Die Kriegsparteien sind fast immer und sogar leidenschaftlich der Meinung,
daß sie selber für eine gerechte Sache und ihre Feinde für eine ungerechte
Sache streiten. Sogar wenn sie von Anfang an noch Zweifel haben, werden durch
die Steigerung der Parteileidenschaft während des Kriegs diese Zweifel meistens ver-
drängt, und der Glaube an das eigene Recht und das Unrecht des Feindes oft bis
zum Fanatismus erhitzt. Das Völkerrecht vermuthet auf beiden Seiten guten
Glauben
und kann der Ueberzeugung der einzelnen Parteien durchaus nicht den
Einfluß verstatten, daß die humanen und das Menschenleben schonenden Grundsätze
des Völkerrechts zur Seite geschoben, und ein Vernichtungskampf gegen die feind-
lichen Truppen geübt werde.

585.

Feindliche Personen, welche die Waffen strecken und sich dem Sieger
ergeben, sind zu schonen und dürfen weder verwundet noch getödtet, wohl
aber entwaffnet und zu Kriegsgefangenen gemacht werden.

Vgl. oben § 533. 568. 579. Schon in dem uralten Indischen Gesetzbuch
Manus (VII. 91 f.) ist die Pflicht anerkannt worden, den Feind, der sich ergibt,
zu schonen. Aber diese milde Gesetzgebung steht im Alterthum noch sehr vereinzelt
als ein Zeugniß des früh in Indien erwachten humanen Rechtsbewußtseins. Die
Römer erklärten ihre Benennung der Sclaven "servi" davon, daß den besiegten
Feinden das verwirkte Leben geschenkt worden sei, und meinten, die Sclaverei aus
solcher Schonung zu rechtfertigen. (Florentinus Instit. IX. L. 4. de statu
hom.: "Servi ex eo appellati sunt, quod imperatores captivos vendere ac
per hoc servare nec occidere solent".
) Im Mittelalter noch wurden die gefan-
genen Feinde wie eine gute Beute betrachtet und ihnen, wie das heute noch die
Italienischen Briganten thun, ein möglichst hohes Lösegeld ausgepreßt. Erst die
moderne Kriegsführung ist gesitteter geworden und hat den alten humanen Grund-
satz der Feindesschonung wieder zu Ehren gebracht. Man braucht nur die
Aeußerung von Hugo Grotius (Buch III. Cap. 4) mit denen von Vattel
(III. § 139 u. 140) zu vergleichen, um den großen Fortschritt in der Humanität
wahrzunehmen, welcher vom siebzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert gemacht
worden ist; und doch spricht Vattel noch von einem Recht über Leben und Tod des
Feindes, das wir heute als Barbarei verneinen.

586.

Die Krankenwagen (Ambulancen) und Militärspitäler werden als

Das Kriegsrecht.
offenbar ungerechte Sache kämpfe, begründet niemals das Recht, den feind-
lichen Truppen das Quartier zu verweigern.

Die Kriegsparteien ſind faſt immer und ſogar leidenſchaftlich der Meinung,
daß ſie ſelber für eine gerechte Sache und ihre Feinde für eine ungerechte
Sache ſtreiten. Sogar wenn ſie von Anfang an noch Zweifel haben, werden durch
die Steigerung der Parteileidenſchaft während des Kriegs dieſe Zweifel meiſtens ver-
drängt, und der Glaube an das eigene Recht und das Unrecht des Feindes oft bis
zum Fanatismus erhitzt. Das Völkerrecht vermuthet auf beiden Seiten guten
Glauben
und kann der Ueberzeugung der einzelnen Parteien durchaus nicht den
Einfluß verſtatten, daß die humanen und das Menſchenleben ſchonenden Grundſätze
des Völkerrechts zur Seite geſchoben, und ein Vernichtungskampf gegen die feind-
lichen Truppen geübt werde.

585.

Feindliche Perſonen, welche die Waffen ſtrecken und ſich dem Sieger
ergeben, ſind zu ſchonen und dürfen weder verwundet noch getödtet, wohl
aber entwaffnet und zu Kriegsgefangenen gemacht werden.

Vgl. oben § 533. 568. 579. Schon in dem uralten Indiſchen Geſetzbuch
Manus (VII. 91 f.) iſt die Pflicht anerkannt worden, den Feind, der ſich ergibt,
zu ſchonen. Aber dieſe milde Geſetzgebung ſteht im Alterthum noch ſehr vereinzelt
als ein Zeugniß des früh in Indien erwachten humanen Rechtsbewußtſeins. Die
Römer erklärten ihre Benennung der Sclaven „servi“ davon, daß den beſiegten
Feinden das verwirkte Leben geſchenkt worden ſei, und meinten, die Sclaverei aus
ſolcher Schonung zu rechtfertigen. (Florentinus Instit. IX. L. 4. de statu
hom.: „Servi ex eo appellati sunt, quod imperatores captivos vendere ac
per hoc servare nec occidere solent“.
) Im Mittelalter noch wurden die gefan-
genen Feinde wie eine gute Beute betrachtet und ihnen, wie das heute noch die
Italieniſchen Briganten thun, ein möglichſt hohes Löſegeld ausgepreßt. Erſt die
moderne Kriegsführung iſt geſitteter geworden und hat den alten humanen Grund-
ſatz der Feindesſchonung wieder zu Ehren gebracht. Man braucht nur die
Aeußerung von Hugo Grotius (Buch III. Cap. 4) mit denen von Vattel
(III. § 139 u. 140) zu vergleichen, um den großen Fortſchritt in der Humanität
wahrzunehmen, welcher vom ſiebzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert gemacht
worden iſt; und doch ſpricht Vattel noch von einem Recht über Leben und Tod des
Feindes, das wir heute als Barbarei verneinen.

586.

Die Krankenwagen (Ambulancen) und Militärſpitäler werden als

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[325/0347] Das Kriegsrecht. offenbar ungerechte Sache kämpfe, begründet niemals das Recht, den feind- lichen Truppen das Quartier zu verweigern. Die Kriegsparteien ſind faſt immer und ſogar leidenſchaftlich der Meinung, daß ſie ſelber für eine gerechte Sache und ihre Feinde für eine ungerechte Sache ſtreiten. Sogar wenn ſie von Anfang an noch Zweifel haben, werden durch die Steigerung der Parteileidenſchaft während des Kriegs dieſe Zweifel meiſtens ver- drängt, und der Glaube an das eigene Recht und das Unrecht des Feindes oft bis zum Fanatismus erhitzt. Das Völkerrecht vermuthet auf beiden Seiten guten Glauben und kann der Ueberzeugung der einzelnen Parteien durchaus nicht den Einfluß verſtatten, daß die humanen und das Menſchenleben ſchonenden Grundſätze des Völkerrechts zur Seite geſchoben, und ein Vernichtungskampf gegen die feind- lichen Truppen geübt werde. 585. Feindliche Perſonen, welche die Waffen ſtrecken und ſich dem Sieger ergeben, ſind zu ſchonen und dürfen weder verwundet noch getödtet, wohl aber entwaffnet und zu Kriegsgefangenen gemacht werden. Vgl. oben § 533. 568. 579. Schon in dem uralten Indiſchen Geſetzbuch Manus (VII. 91 f.) iſt die Pflicht anerkannt worden, den Feind, der ſich ergibt, zu ſchonen. Aber dieſe milde Geſetzgebung ſteht im Alterthum noch ſehr vereinzelt als ein Zeugniß des früh in Indien erwachten humanen Rechtsbewußtſeins. Die Römer erklärten ihre Benennung der Sclaven „servi“ davon, daß den beſiegten Feinden das verwirkte Leben geſchenkt worden ſei, und meinten, die Sclaverei aus ſolcher Schonung zu rechtfertigen. (Florentinus Instit. IX. L. 4. de statu hom.: „Servi ex eo appellati sunt, quod imperatores captivos vendere ac per hoc servare nec occidere solent“.) Im Mittelalter noch wurden die gefan- genen Feinde wie eine gute Beute betrachtet und ihnen, wie das heute noch die Italieniſchen Briganten thun, ein möglichſt hohes Löſegeld ausgepreßt. Erſt die moderne Kriegsführung iſt geſitteter geworden und hat den alten humanen Grund- ſatz der Feindesſchonung wieder zu Ehren gebracht. Man braucht nur die Aeußerung von Hugo Grotius (Buch III. Cap. 4) mit denen von Vattel (III. § 139 u. 140) zu vergleichen, um den großen Fortſchritt in der Humanität wahrzunehmen, welcher vom ſiebzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert gemacht worden iſt; und doch ſpricht Vattel noch von einem Recht über Leben und Tod des Feindes, das wir heute als Barbarei verneinen. 586. Die Krankenwagen (Ambulancen) und Militärſpitäler werden als

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/347>, abgerufen am 28.03.2024.