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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Christenheit verkündet.
Damit ist aber die menschliche Grundlage des Völkerrechts im Princip ver-
neint. Wenn das Völkerrecht Menschenrecht ist, weshalb sollten denn die
ungläubigen Völker sich nicht ebenso darauf berufen dürfen, wie die gläu-
bigen? Hören sie denn auf, Menschen zu sein, weil sie andere Vor-
stellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen?

Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die
selbstsüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden,
das christliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker
die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menschlichkeit
konnte die Welt nicht erleuchten, so lange die Atmosphäre von dem Rauche
der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshaß angezündet hatte.

Die Germanen.

Die zweite bestimmende Macht des Mittelalters, die Germanen,
brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber
auch diese Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung.
Der trotzige Freiheitssinn und das lebhafte Gefühl der besondern Persön-
lichkeit, wodurch die Germanen von jeher sich auszeichneten, haben einen
natürlichen Zug zu allgemeinem Menschenrecht. Die in zahlreiche Stämme
und Völkerschaften getheilten Germanen waren immer geneigt, auch andern
Völkern ein Recht zuzuschreiben, wie sie es für sich in Anspruch nahmen.
In dem Fremden achteten sie doch den Menschen und hielten es für billig,
daß ein Jeder nach seinem angeborenen Stammes- oder seinem gewählten
Volksrechte beurtheilt werde. Sie erkannten so ein Nebeneinander ver-
schiedener Volksrechte an. Für sie hatten Persönlichkeit, Freiheit, Ehre
höchsten Werth, aber sie glaubten nicht im Alleinbesitz dieser Güter zu sein,
wenn freilich auch sie sich für besser und schätzenswerther hielten als andere
Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten sie sich nicht, bevor sie
in die Schule der römischen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen
Lande machten sie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege
vergaßen sie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg
als einen gewaltigen Rechtsstreit und glaubten, daß Gott dem Rechte zum
Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feinde
und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten sie noch
immer von Natur berechtigte Menschen. Sicher sind das höchst bedeutsame
Ansätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerst und vortrefflich
gezeigt hat.

Einleitung.
wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Chriſtenheit verkündet.
Damit iſt aber die menſchliche Grundlage des Völkerrechts im Princip ver-
neint. Wenn das Völkerrecht Menſchenrecht iſt, weshalb ſollten denn die
ungläubigen Völker ſich nicht ebenſo darauf berufen dürfen, wie die gläu-
bigen? Hören ſie denn auf, Menſchen zu ſein, weil ſie andere Vor-
ſtellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen?

Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die
ſelbſtſüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden,
das chriſtliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker
die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menſchlichkeit
konnte die Welt nicht erleuchten, ſo lange die Atmoſphäre von dem Rauche
der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshaß angezündet hatte.

Die Germanen.

Die zweite beſtimmende Macht des Mittelalters, die Germanen,
brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber
auch dieſe Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung.
Der trotzige Freiheitsſinn und das lebhafte Gefühl der beſondern Perſön-
lichkeit, wodurch die Germanen von jeher ſich auszeichneten, haben einen
natürlichen Zug zu allgemeinem Menſchenrecht. Die in zahlreiche Stämme
und Völkerſchaften getheilten Germanen waren immer geneigt, auch andern
Völkern ein Recht zuzuſchreiben, wie ſie es für ſich in Anſpruch nahmen.
In dem Fremden achteten ſie doch den Menſchen und hielten es für billig,
daß ein Jeder nach ſeinem angeborenen Stammes- oder ſeinem gewählten
Volksrechte beurtheilt werde. Sie erkannten ſo ein Nebeneinander ver-
ſchiedener Volksrechte an. Für ſie hatten Perſönlichkeit, Freiheit, Ehre
höchſten Werth, aber ſie glaubten nicht im Alleinbeſitz dieſer Güter zu ſein,
wenn freilich auch ſie ſich für beſſer und ſchätzenswerther hielten als andere
Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten ſie ſich nicht, bevor ſie
in die Schule der römiſchen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen
Lande machten ſie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege
vergaßen ſie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg
als einen gewaltigen Rechtsſtreit und glaubten, daß Gott dem Rechte zum
Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feinde
und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten ſie noch
immer von Natur berechtigte Menſchen. Sicher ſind das höchſt bedeutſame
Anſätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerſt und vortrefflich
gezeigt hat.

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[14/0036] Einleitung. wurde auf allen Kanzeln als die heilige Pflicht der Chriſtenheit verkündet. Damit iſt aber die menſchliche Grundlage des Völkerrechts im Princip ver- neint. Wenn das Völkerrecht Menſchenrecht iſt, weshalb ſollten denn die ungläubigen Völker ſich nicht ebenſo darauf berufen dürfen, wie die gläu- bigen? Hören ſie denn auf, Menſchen zu ſein, weil ſie andere Vor- ſtellungen haben als die Kirche von Gott und göttlichen Dingen? Die antike Welt hatte kein Völkerrecht zu Stande gebracht, weil die ſelbſtſüchtigen Völker den Fremden, den Barbaren nicht gerecht wurden, das chriſtliche Mittelalter kam nicht dazu, weil die glaubenseifrigen Völker die Ungläubigen für rechtlos hielten. Die reine Idee der Menſchlichkeit konnte die Welt nicht erleuchten, ſo lange die Atmoſphäre von dem Rauche der Brandopfer verdunkelt war, welche der Glaubenshaß angezündet hatte. Die Germanen. Die zweite beſtimmende Macht des Mittelalters, die Germanen, brachten ebenfalls eine Anlage zu völkerrechtlicher Rechtsbildung mit, aber auch dieſe Anlage gelangte im Mittelalter nicht zu voller Entwicklung. Der trotzige Freiheitsſinn und das lebhafte Gefühl der beſondern Perſön- lichkeit, wodurch die Germanen von jeher ſich auszeichneten, haben einen natürlichen Zug zu allgemeinem Menſchenrecht. Die in zahlreiche Stämme und Völkerſchaften getheilten Germanen waren immer geneigt, auch andern Völkern ein Recht zuzuſchreiben, wie ſie es für ſich in Anſpruch nahmen. In dem Fremden achteten ſie doch den Menſchen und hielten es für billig, daß ein Jeder nach ſeinem angeborenen Stammes- oder ſeinem gewählten Volksrechte beurtheilt werde. Sie erkannten ſo ein Nebeneinander ver- ſchiedener Volksrechte an. Für ſie hatten Perſönlichkeit, Freiheit, Ehre höchſten Werth, aber ſie glaubten nicht im Alleinbeſitz dieſer Güter zu ſein, wenn freilich auch ſie ſich für beſſer und ſchätzenswerther hielten als andere Nationen. Um den Glauben Anderer kümmerten ſie ſich nicht, bevor ſie in die Schule der römiſchen Kirche kamen. Nicht einmal im eigenen Lande machten ſie das Recht vom Glauben abhängig. Sogar im Kriege vergaßen ſie das Recht nicht. Sie betrachteten die Fehde und den Krieg als einen gewaltigen Rechtsſtreit und glaubten, daß Gott dem Rechte zum Siege verhelfe, in der Schlacht wie im Zweikampf. Auch in dem Feinde und in den unterwürfigen Knechten und eigenen Leuten achteten ſie noch immer von Natur berechtigte Menſchen. Sicher ſind das höchſt bedeutſame Anſätze zum Völkerrecht, wie der Belgier Laurent zuerſt und vortrefflich gezeigt hat.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/36>, abgerufen am 28.03.2024.