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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute sind
beide Kräfte thätig. Bald geht die Wissenschaft voraus, indem sie völker-
rechtliche Grundsätze ausspricht und erweist, bald folgt die Wissenschaft der
rüstiger vorschreitenden Praxis nach, welche von der Culturströmung der
Zeit getrieben und von den Bedürfnissen der Zeit gedrängt sich entschließt,
neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wissen-
schaft gelingt, der Menschheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorschriften klar
zu machen, und das Rechtsgefühl der Mächte diese Vorschriften zu beachten
beginnt, dann ist wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, gesetzt auch es
sollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Be-
folgung nicht immer zu erzwingen sein. Ebenso wenn es der statlichen
Praxis glückt, sei es durch diplomatische Verhandlungen oder in der Kriegs-
übung oder sonst im Leben angesehener Völker bestimmte völkerrechtliche
Befugnisse und Pflichten zur Anerkennung und stätigen Wirksamkeit zu
bringen, so wird auch auf diese Weise das allmählige Wachsthum des
Völkerrechts sichtbar, obwohl es an einer alle Staten bindenden formellen
Autorität und an einer gesicherten Rechtspflege noch fehlt.

Es ist charakteristisch, daß das Bahn brechende Werk des edeln Hol-
länders Hugo de Groot, der mit Recht als der geistige Vater des
modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angesicht des entsetzlichen Krieges
geschrieben wurde (1622--1625), in welchem die deutsche Nation während
dreißig Jahren gegen sich selber wüthete. Damals trat der hochgebildete
Gelehrte und Statsmann zugleich dem religiösen Fanatismus entgegen,
welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk
ansah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenschaften und Lüsten
zügellosen Lauf verstattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines
auf die menschliche Natur gegründeten und durch die Zustimmung der
Weisen und Edeln aller Zeiten geheiligten Rechts, damit sie sich wieder
ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne.

Befreiung des Völkerrechts von religiöser Befangenheit.

Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken
Vorurtheil, daß nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos
seien und ebenso frei von dem mittelalterlichen Wahne, daß die Gültigkeit
des Menschenrechts abhängig sei von dem besonderen Gottesglauben. Mit
viel Muth und großem Nachdruck hat sodann der Nachfolger Groot's, der
Deutsche Pufendorf ebenfalls noch im siebzehnten Jahrhundert wider die

Einleitung.
übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute ſind
beide Kräfte thätig. Bald geht die Wiſſenſchaft voraus, indem ſie völker-
rechtliche Grundſätze ausſpricht und erweiſt, bald folgt die Wiſſenſchaft der
rüſtiger vorſchreitenden Praxis nach, welche von der Culturſtrömung der
Zeit getrieben und von den Bedürfniſſen der Zeit gedrängt ſich entſchließt,
neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wiſſen-
ſchaft gelingt, der Menſchheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorſchriften klar
zu machen, und das Rechtsgefühl der Mächte dieſe Vorſchriften zu beachten
beginnt, dann iſt wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, geſetzt auch es
ſollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Be-
folgung nicht immer zu erzwingen ſein. Ebenſo wenn es der ſtatlichen
Praxis glückt, ſei es durch diplomatiſche Verhandlungen oder in der Kriegs-
übung oder ſonſt im Leben angeſehener Völker beſtimmte völkerrechtliche
Befugniſſe und Pflichten zur Anerkennung und ſtätigen Wirkſamkeit zu
bringen, ſo wird auch auf dieſe Weiſe das allmählige Wachsthum des
Völkerrechts ſichtbar, obwohl es an einer alle Staten bindenden formellen
Autorität und an einer geſicherten Rechtspflege noch fehlt.

Es iſt charakteriſtiſch, daß das Bahn brechende Werk des edeln Hol-
länders Hugo de Groot, der mit Recht als der geiſtige Vater des
modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angeſicht des entſetzlichen Krieges
geſchrieben wurde (1622—1625), in welchem die deutſche Nation während
dreißig Jahren gegen ſich ſelber wüthete. Damals trat der hochgebildete
Gelehrte und Statsmann zugleich dem religiöſen Fanatismus entgegen,
welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk
anſah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenſchaften und Lüſten
zügelloſen Lauf verſtattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines
auf die menſchliche Natur gegründeten und durch die Zuſtimmung der
Weiſen und Edeln aller Zeiten geheiligten Rechts, damit ſie ſich wieder
ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne.

Befreiung des Völkerrechts von religiöſer Befangenheit.

Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken
Vorurtheil, daß nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos
ſeien und ebenſo frei von dem mittelalterlichen Wahne, daß die Gültigkeit
des Menſchenrechts abhängig ſei von dem beſonderen Gottesglauben. Mit
viel Muth und großem Nachdruck hat ſodann der Nachfolger Groot’s, der
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[16/0038] Einleitung. übernahm die Pflege und Erweiterung des Völkerrechts. Noch heute ſind beide Kräfte thätig. Bald geht die Wiſſenſchaft voraus, indem ſie völker- rechtliche Grundſätze ausſpricht und erweiſt, bald folgt die Wiſſenſchaft der rüſtiger vorſchreitenden Praxis nach, welche von der Culturſtrömung der Zeit getrieben und von den Bedürfniſſen der Zeit gedrängt ſich entſchließt, neues Recht anzuwenden und ins Leben einzuführen. Wenn es der Wiſſen- ſchaft gelingt, der Menſchheit ihre Rechtsideen als Rechtsvorſchriften klar zu machen, und das Rechtsgefühl der Mächte dieſe Vorſchriften zu beachten beginnt, dann iſt wirkliches Völkerrecht offenbar geworden, geſetzt auch es ſollte nicht überall und nicht ausnahmslos anerkannt werden und die Be- folgung nicht immer zu erzwingen ſein. Ebenſo wenn es der ſtatlichen Praxis glückt, ſei es durch diplomatiſche Verhandlungen oder in der Kriegs- übung oder ſonſt im Leben angeſehener Völker beſtimmte völkerrechtliche Befugniſſe und Pflichten zur Anerkennung und ſtätigen Wirkſamkeit zu bringen, ſo wird auch auf dieſe Weiſe das allmählige Wachsthum des Völkerrechts ſichtbar, obwohl es an einer alle Staten bindenden formellen Autorität und an einer geſicherten Rechtspflege noch fehlt. Es iſt charakteriſtiſch, daß das Bahn brechende Werk des edeln Hol- länders Hugo de Groot, der mit Recht als der geiſtige Vater des modernen Völkerrechts geehrt wird, im Angeſicht des entſetzlichen Krieges geſchrieben wurde (1622—1625), in welchem die deutſche Nation während dreißig Jahren gegen ſich ſelber wüthete. Damals trat der hochgebildete Gelehrte und Statsmann zugleich dem religiöſen Fanatismus entgegen, welcher die Ausrottung der Andersgläubigen als ein gottgefälliges Werk anſah und der brutalen Rohheit, welche ihren Leidenſchaften und Lüſten zügelloſen Lauf verſtattete. Er zeigte der Welt das erhabene Bild eines auf die menſchliche Natur gegründeten und durch die Zuſtimmung der Weiſen und Edeln aller Zeiten geheiligten Rechts, damit ſie ſich wieder ihrer Pflicht erinnere und Mäßigung lerne. Befreiung des Völkerrechts von religiöſer Befangenheit. Von Anfang an war das neue Völkerrecht frei von dem antiken Vorurtheil, daß nur das eigene Volk berechtigt, die Fremden aber rechtlos ſeien und ebenſo frei von dem mittelalterlichen Wahne, daß die Gültigkeit des Menſchenrechts abhängig ſei von dem beſonderen Gottesglauben. Mit viel Muth und großem Nachdruck hat ſodann der Nachfolger Groot’s, der Deutſche Pufendorf ebenfalls noch im ſiebzehnten Jahrhundert wider die

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/38>, abgerufen am 28.03.2024.