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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Das Kriegsrecht.
Tag alle Wirkungen der erschienenen Kriegsgewalt abgebrochen werden. Wenn
das Heer zur Zeit des Friedensschlusses sich in Feindesland befindet, so bedarf es
zum Wegzug einiger Zeit und kann inzwischen die Maßregeln seiner Sicher-
heit
nicht aufgeben. Es gibt also auch hier Uebergänge, welche das gänzliche
Erlöschen des Ausnahmszustandes möglich machen. In allen diesen Beziehungen
verlangt das Völkerrecht bona fides in der Ausführung des Friedens.

709.

Wenn nach Abschluß des Friedens durch einzelne Heeresabtheilungen,
wenn auch in gutem Glauben, weil sie noch nicht von dem Friedensschluß
Kenntniß hatten, feindliche Handlungen verübt worden sind, so ist der
Zustand, wie er vor denselben gewesen ist, soweit möglich wieder herzu-
stellen, beziehungsweise Entschädigung zu leisten.

Der Friede ist verbindlich für die kriegführenden Staten und daher auch
für ihre Heere, und ihre Statsangehörigen. Hugo Grotius III. 20.
§ 32: "Est enim pax actus civitatis pro toto et pro partibus".
Wenn daher einzelne Truppenkörper, ohne den Frieden zu kennen, noch eine Stadt
oder eine Festung einnehmen, so müssen sie dieselbe wieder räumen. Ebenso wenn
nachher noch feindliche Schiffe als Prise genommen werden, so sind dieselben wieder
frei zu lassen.

710.

Mit dem Friedensschluß ist die Regel der Amnestie verbunden, so-
weit nicht besondere Vorbehalte eine Ausnahme begründen, d. h. es wird
in der Regel keine weitere Klage gestattet wegen Schädigungen und Un-
bilden, welche von den Angehörigen einer Kriegspartei wider die Ange-
hörigen der andern Partei während des Kriegs verübt worden sind.

1. Die Amnestie ist nothwendig, damit das Gefühl des Friedens sich be-
festige. Würde es gestattet, den Streit fortzusetzen, so wäre immer wieder die Gefahr
da, daß die Parteien neuerdings zu den Waffen griffen und der Krieg wieder ent-
flammt würde. Wenn auch die Klagen über erlittene Unbill oder Schädigung zu-
nächst gegen einzelne feindliche Personen gerichtet würden, so ist doch hinter diesen der
Stat, für den sie kämpften. Je weniger die Kriegsführung den normalen Rechts-
zuständen entspricht, und je gewaltsamer sie vorgeht, um so leichter ist hier Streit
und um so öfter sind Klagen veranlaßt. Diesen Streit und diese Klagen will die
Amnestie mit Vergessenheit zur Ruhe bringen. In vielen Friedensverträgen wird sie
ausdrücklich vorbehalten, in andern stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt.
Z. B. Wiener Congreßakte von 1815 Art. XI.: "Amnistie generale en

Bluntschli, Das Völkerrecht. 25

Das Kriegsrecht.
Tag alle Wirkungen der erſchienenen Kriegsgewalt abgebrochen werden. Wenn
das Heer zur Zeit des Friedensſchluſſes ſich in Feindesland befindet, ſo bedarf es
zum Wegzug einiger Zeit und kann inzwiſchen die Maßregeln ſeiner Sicher-
heit
nicht aufgeben. Es gibt alſo auch hier Uebergänge, welche das gänzliche
Erlöſchen des Ausnahmszuſtandes möglich machen. In allen dieſen Beziehungen
verlangt das Völkerrecht bona fides in der Ausführung des Friedens.

709.

Wenn nach Abſchluß des Friedens durch einzelne Heeresabtheilungen,
wenn auch in gutem Glauben, weil ſie noch nicht von dem Friedensſchluß
Kenntniß hatten, feindliche Handlungen verübt worden ſind, ſo iſt der
Zuſtand, wie er vor denſelben geweſen iſt, ſoweit möglich wieder herzu-
ſtellen, beziehungsweiſe Entſchädigung zu leiſten.

Der Friede iſt verbindlich für die kriegführenden Staten und daher auch
für ihre Heere, und ihre Statsangehörigen. Hugo Grotius III. 20.
§ 32: „Est enim pax actus civitatis pro toto et pro partibus“.
Wenn daher einzelne Truppenkörper, ohne den Frieden zu kennen, noch eine Stadt
oder eine Feſtung einnehmen, ſo müſſen ſie dieſelbe wieder räumen. Ebenſo wenn
nachher noch feindliche Schiffe als Priſe genommen werden, ſo ſind dieſelben wieder
frei zu laſſen.

710.

Mit dem Friedensſchluß iſt die Regel der Amneſtie verbunden, ſo-
weit nicht beſondere Vorbehalte eine Ausnahme begründen, d. h. es wird
in der Regel keine weitere Klage geſtattet wegen Schädigungen und Un-
bilden, welche von den Angehörigen einer Kriegspartei wider die Ange-
hörigen der andern Partei während des Kriegs verübt worden ſind.

1. Die Amneſtie iſt nothwendig, damit das Gefühl des Friedens ſich be-
feſtige. Würde es geſtattet, den Streit fortzuſetzen, ſo wäre immer wieder die Gefahr
da, daß die Parteien neuerdings zu den Waffen griffen und der Krieg wieder ent-
flammt würde. Wenn auch die Klagen über erlittene Unbill oder Schädigung zu-
nächſt gegen einzelne feindliche Perſonen gerichtet würden, ſo iſt doch hinter dieſen der
Stat, für den ſie kämpften. Je weniger die Kriegsführung den normalen Rechts-
zuſtänden entſpricht, und je gewaltſamer ſie vorgeht, um ſo leichter iſt hier Streit
und um ſo öfter ſind Klagen veranlaßt. Dieſen Streit und dieſe Klagen will die
Amneſtie mit Vergeſſenheit zur Ruhe bringen. In vielen Friedensverträgen wird ſie
ausdrücklich vorbehalten, in andern ſtillſchweigend als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt.
Z. B. Wiener Congreßakte von 1815 Art. XI.: „Amnistie générale en

Bluntſchli, Das Völkerrecht. 25
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[385/0407] Das Kriegsrecht. Tag alle Wirkungen der erſchienenen Kriegsgewalt abgebrochen werden. Wenn das Heer zur Zeit des Friedensſchluſſes ſich in Feindesland befindet, ſo bedarf es zum Wegzug einiger Zeit und kann inzwiſchen die Maßregeln ſeiner Sicher- heit nicht aufgeben. Es gibt alſo auch hier Uebergänge, welche das gänzliche Erlöſchen des Ausnahmszuſtandes möglich machen. In allen dieſen Beziehungen verlangt das Völkerrecht bona fides in der Ausführung des Friedens. 709. Wenn nach Abſchluß des Friedens durch einzelne Heeresabtheilungen, wenn auch in gutem Glauben, weil ſie noch nicht von dem Friedensſchluß Kenntniß hatten, feindliche Handlungen verübt worden ſind, ſo iſt der Zuſtand, wie er vor denſelben geweſen iſt, ſoweit möglich wieder herzu- ſtellen, beziehungsweiſe Entſchädigung zu leiſten. Der Friede iſt verbindlich für die kriegführenden Staten und daher auch für ihre Heere, und ihre Statsangehörigen. Hugo Grotius III. 20. § 32: „Est enim pax actus civitatis pro toto et pro partibus“. Wenn daher einzelne Truppenkörper, ohne den Frieden zu kennen, noch eine Stadt oder eine Feſtung einnehmen, ſo müſſen ſie dieſelbe wieder räumen. Ebenſo wenn nachher noch feindliche Schiffe als Priſe genommen werden, ſo ſind dieſelben wieder frei zu laſſen. 710. Mit dem Friedensſchluß iſt die Regel der Amneſtie verbunden, ſo- weit nicht beſondere Vorbehalte eine Ausnahme begründen, d. h. es wird in der Regel keine weitere Klage geſtattet wegen Schädigungen und Un- bilden, welche von den Angehörigen einer Kriegspartei wider die Ange- hörigen der andern Partei während des Kriegs verübt worden ſind. 1. Die Amneſtie iſt nothwendig, damit das Gefühl des Friedens ſich be- feſtige. Würde es geſtattet, den Streit fortzuſetzen, ſo wäre immer wieder die Gefahr da, daß die Parteien neuerdings zu den Waffen griffen und der Krieg wieder ent- flammt würde. Wenn auch die Klagen über erlittene Unbill oder Schädigung zu- nächſt gegen einzelne feindliche Perſonen gerichtet würden, ſo iſt doch hinter dieſen der Stat, für den ſie kämpften. Je weniger die Kriegsführung den normalen Rechts- zuſtänden entſpricht, und je gewaltſamer ſie vorgeht, um ſo leichter iſt hier Streit und um ſo öfter ſind Klagen veranlaßt. Dieſen Streit und dieſe Klagen will die Amneſtie mit Vergeſſenheit zur Ruhe bringen. In vielen Friedensverträgen wird ſie ausdrücklich vorbehalten, in andern ſtillſchweigend als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt. Z. B. Wiener Congreßakte von 1815 Art. XI.: „Amnistie générale en Bluntſchli, Das Völkerrecht. 25

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/407>, abgerufen am 25.04.2024.