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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Das Kriegsrecht.
tiven Verfügung berechtigt war. Der Friede aber legitimirt auch die im Kriege
geschehenen unrechtmäßigen Handlungen der Kriegsgewalt, wenn er nicht darüber
ausdrücklich anders bestimmt. Vgl. oben § 710.

735.

Die restaurirte Regierung ist nicht berechtigt, für die Zwischenzeit
Verfügungen zu treffen mit rückwirkender Kraft, sondern genöthigt, die
Folgen einer thatsächlichen Zwischenregierung, welche sie nicht zu verhindern
vermochte, auch ihrerseits zu tragen.

Vgl. oben zu § 733. Das Verfahren des 1813 restaurirten Kurfürsten
Wilhelm I. von Hessen und des 1814 restaurirten Königs Victor I. Emanuel
von Sardinien-Piemont, welche die ganze lange Zwischenzeit, in welcher sie
ihrer Stammlande entsetzt waren, als nicht vorhanden fingirten, und alle
Zustände (auch die Beamtenstellungen) wieder auf den Zeitpunkt zurückschraubten, in
dem sie die Herrschaft verloren hatten, macht den Eindruck einer karikirten Legiti-
mität, die an Wahnsinn gränzt. Die großen Ereignisse der Geschichte, welche die
Welt verändern, können nicht durch unnatürliche Fictionen als nicht geschehen be-
trachtet werden.

736.

Das Postliminium tritt in öffentlichen Rechtsverhältnissen nur
während des Kriegs in Wirksamkeit und wird durch den Friedensschluß
ausgeschlossen.

Der Friedensschluß verwandelt die thatsächlichen Veränderungen, die während
des Kriegs entstanden sind und im Frieden bestätigt werden, in einen anerkannten
Rechtszustand
, der daher nur durch neue Rechtsbildung, nicht durch bloße
Wiederherstellung wieder geändert wird. Vgl. oben § 715.

737.

Kriegsgefangene können thatsächlich ihre Freiheit wieder gewinnen,
wenn sie von der Kriegsgewalt befreit werden oder sich selber befreien.
Diese Anwendung des Postliminium findet auch nach dem Friedensschluß
Statt, wenn die Gefangenschaft thatsächlich über denselben hinaus fort-
dauerte.

Gefangene, welche ihre Freiheit durch Bruch ihres Ehrenworts wieder
gewonnen haben, können aber dem Feinde wieder ausgeliefert werden.

Das Kriegsrecht.
tiven Verfügung berechtigt war. Der Friede aber legitimirt auch die im Kriege
geſchehenen unrechtmäßigen Handlungen der Kriegsgewalt, wenn er nicht darüber
ausdrücklich anders beſtimmt. Vgl. oben § 710.

735.

Die reſtaurirte Regierung iſt nicht berechtigt, für die Zwiſchenzeit
Verfügungen zu treffen mit rückwirkender Kraft, ſondern genöthigt, die
Folgen einer thatſächlichen Zwiſchenregierung, welche ſie nicht zu verhindern
vermochte, auch ihrerſeits zu tragen.

Vgl. oben zu § 733. Das Verfahren des 1813 reſtaurirten Kurfürſten
Wilhelm I. von Heſſen und des 1814 reſtaurirten Königs Victor I. Emanuel
von Sardinien-Piemont, welche die ganze lange Zwiſchenzeit, in welcher ſie
ihrer Stammlande entſetzt waren, als nicht vorhanden fingirten, und alle
Zuſtände (auch die Beamtenſtellungen) wieder auf den Zeitpunkt zurückſchraubten, in
dem ſie die Herrſchaft verloren hatten, macht den Eindruck einer karikirten Legiti-
mität, die an Wahnſinn gränzt. Die großen Ereigniſſe der Geſchichte, welche die
Welt verändern, können nicht durch unnatürliche Fictionen als nicht geſchehen be-
trachtet werden.

736.

Das Postliminium tritt in öffentlichen Rechtsverhältniſſen nur
während des Kriegs in Wirkſamkeit und wird durch den Friedensſchluß
ausgeſchloſſen.

Der Friedensſchluß verwandelt die thatſächlichen Veränderungen, die während
des Kriegs entſtanden ſind und im Frieden beſtätigt werden, in einen anerkannten
Rechtszuſtand
, der daher nur durch neue Rechtsbildung, nicht durch bloße
Wiederherſtellung wieder geändert wird. Vgl. oben § 715.

737.

Kriegsgefangene können thatſächlich ihre Freiheit wieder gewinnen,
wenn ſie von der Kriegsgewalt befreit werden oder ſich ſelber befreien.
Dieſe Anwendung des Postliminium findet auch nach dem Friedensſchluß
Statt, wenn die Gefangenſchaft thatſächlich über denſelben hinaus fort-
dauerte.

Gefangene, welche ihre Freiheit durch Bruch ihres Ehrenworts wieder
gewonnen haben, können aber dem Feinde wieder ausgeliefert werden.

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[399/0421] Das Kriegsrecht. tiven Verfügung berechtigt war. Der Friede aber legitimirt auch die im Kriege geſchehenen unrechtmäßigen Handlungen der Kriegsgewalt, wenn er nicht darüber ausdrücklich anders beſtimmt. Vgl. oben § 710. 735. Die reſtaurirte Regierung iſt nicht berechtigt, für die Zwiſchenzeit Verfügungen zu treffen mit rückwirkender Kraft, ſondern genöthigt, die Folgen einer thatſächlichen Zwiſchenregierung, welche ſie nicht zu verhindern vermochte, auch ihrerſeits zu tragen. Vgl. oben zu § 733. Das Verfahren des 1813 reſtaurirten Kurfürſten Wilhelm I. von Heſſen und des 1814 reſtaurirten Königs Victor I. Emanuel von Sardinien-Piemont, welche die ganze lange Zwiſchenzeit, in welcher ſie ihrer Stammlande entſetzt waren, als nicht vorhanden fingirten, und alle Zuſtände (auch die Beamtenſtellungen) wieder auf den Zeitpunkt zurückſchraubten, in dem ſie die Herrſchaft verloren hatten, macht den Eindruck einer karikirten Legiti- mität, die an Wahnſinn gränzt. Die großen Ereigniſſe der Geſchichte, welche die Welt verändern, können nicht durch unnatürliche Fictionen als nicht geſchehen be- trachtet werden. 736. Das Postliminium tritt in öffentlichen Rechtsverhältniſſen nur während des Kriegs in Wirkſamkeit und wird durch den Friedensſchluß ausgeſchloſſen. Der Friedensſchluß verwandelt die thatſächlichen Veränderungen, die während des Kriegs entſtanden ſind und im Frieden beſtätigt werden, in einen anerkannten Rechtszuſtand, der daher nur durch neue Rechtsbildung, nicht durch bloße Wiederherſtellung wieder geändert wird. Vgl. oben § 715. 737. Kriegsgefangene können thatſächlich ihre Freiheit wieder gewinnen, wenn ſie von der Kriegsgewalt befreit werden oder ſich ſelber befreien. Dieſe Anwendung des Postliminium findet auch nach dem Friedensſchluß Statt, wenn die Gefangenſchaft thatſächlich über denſelben hinaus fort- dauerte. Gefangene, welche ihre Freiheit durch Bruch ihres Ehrenworts wieder gewonnen haben, können aber dem Feinde wieder ausgeliefert werden.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/421>, abgerufen am 29.03.2024.